Erfahrung und Analyse

Einleitung

In diesem Blog Beitrag geht es um die Frage, was ich mir von einem guten Tango-Unterricht wünsche. Dabei beleuchte ich zwei Aspekte:

  • Was zeichnet einen guten Lehrer aus?
  • Welche Inhalte wünsche ich mir im Tango Unterricht?

Zu den Lehrern

Das klassische Vorgehen beim Tango Unterricht basiert darauf, dass der Lehrer über möglichst viel praktische Erfahrung verfügt. Der Lehrer tanzt selber gerne Tango und hat irgendwann genug eigene Erfahrung gesammelt, die er dann an seine Schüler weitergeben kann. Das ist wie das Handwerk in alten Zeiten, als der Meister seine Erfahrungen an seine Lehrlinge weitergab. Je mehr Erfahrung der Meister hat, desto mehr lernt der Lehrling.

Wenn ich als Schüler einen guten Lehrer suche, dann orientiere ich mich also in diesem klassischen Rollenmodell am besten daran, wie gut dieser Lehrer selbst tanzt. Wenn er viel Erfahrung hat und mir sein Stil gefällt, dann schließe ich mich ihm an und versuche möglichst viel von seinem Wissen zu erlernen.

Eine Konsequenz dieser Herangehensweise ist dann unter anderem, dass man gerne zu Lehrern geht, die aus Argentinien stammen, weil sie dort den Tango schon mit der Muttermilch aufgesogen haben.

Es gibt allerdings auch ein anderes Modell, das meines Wissens nach inzwischen in allen professionell betriebenen Sportarten eingesetzt wird. Dort ist es so, dass ein Trainer völlig andere Aufgaben hat als ein Spieler. Er braucht ganz andere Eigenschaften als die Spieler, um die Qualität seiner Mannschaft zu steigern. Dabei sollte er natürlich eine gewisse Erfahrung in der jeweiligen Sportart mitbringen. Aber er muss nicht selber auf Spitzenniveau gespielt haben um seine Mannschaft auf Spitzenniveau zu bringen.

Um das an aktuellen Beispielen zu verdeutlichen: Weder Thomas Tuchel noch Julian Nagelsmann haben jemals in der ersten Bundesliga oder gar in der Nationalmannschaft gespielt. Trotzdem schaffen sie es ihre Mannschaften erfolgreich in der Champions League spielen zu lassen.

Und das wäre auch genau die Entwicklung, die ich mir für den Tango wünsche: Lehrer, die vorrangig die Lehre beherrschen und ihre Schüler weiterbringen. Ob sie dabei selber auf Spitzenniveau tanzen ist für mich eher zweitrangig.

Zu den Unterrichtsinhalten

Ähnliches gilt auch für die Unterrichtsinhalte. Hier wünsche ich mir ebenfalls eine gewisse Professionalisierung, die neben den klassischen Figuren und Schrittfolgen auch die theoretischen Grundlagen dahinter vermittelt.

Die Aufwärmphase

Das beginnt schon direkt am Anfang einer Tango Unterrichtsstunde. Üblich ist das so genannte "Eintanzen", dessen Zweck allerdings nie wirklich erklärt wird. Klar: Man muss erst einmal im Unterricht ankommen, den Alltag hinter sich lassen und den mentalen Fokus voll und ganz auf den Unterricht konzentrieren. Aber ist das wirklich schon alles?

Hier wünsche ich mir, dass der Unterricht zusätzlich mit einem Tango-spezifischen "Aufwärmen" beginnt, also mit Übungen, die die notwendige Beweglichkeit fördern.

So etwas habe ich zum Beispiel schon bei Ines Moussavi erlebt. Sie beginnt den Unterricht mit einigen Übungen zur Stärkung der Fußmuskulatur und zur Förderung der Balance. Das hilft insbesondere den Folgenden. 

Für Führende wünsche ich mir zusätzlich, dass einige Übungen gemacht werden, die die Beweglichkeit fördern, insbesondere im Oberkörper. Die berühmte "Dissoziation" sollte vor jeder Stunde trainiert werden. Ob sich dafür Übungen aus den Bereichen Rückengymnastik, Yoga, Tai Chi, Qi Gong oder was auch immer besser eignen, mögen die Fachleute entscheiden. Möglicherweise gibt es sogar einige Trockenübungen, die sich aus dem Tango selbst heraus entwickelt und bewährt haben.

Der praktische Tanzunterricht

Ich habe in diesem Blog Beitrag beschrieben, wie ich eine neue Figur lerne. Entsprechend wünsche ich mir, dass der praktische Tango Unterricht in dieser Reihenfolge abläuft. Als erstes werden die Damenschritte vorstellt, die ich führen muss, und dann wird analytisch zeitlich rückwärts vorgegangen um zu erklären, wie die Herrenschritte aussehen sollten, damit ich die Damenschritte möglichst optimal führen kann. Und am Schluss kommen dann noch die internen Details, die von außen nicht sichtbar sind.

Anatomische Grundlagen

Als weiteren Bestandteil des Unterrichts wünsche ich mir, dass auf die anatomischen Grundlagen der Bewegung eingegangen wird. Damit wird klarer, was mit einer aufrechten Haltung gemeint ist oder wozu die Umarmung gut ist.

Die anatomischen Grundlagen werden zum Beispiel von Mira und Andres wunderbar erläutert. Wenn man ihr Studio betritt, dann denkt man zuerst, man ist bei einem Physiotherapeuten gelandet. Es ist tatsächlich so, dass Andres gerne anhand des Skeletts, das mahnend in der Ecke steht, erläutert, wo welche Muskeln wirken um welche Bewegung zu erzeugen.

Ähnlich arbeiten Chantal und Sebastian. Wenn sie erläutern, wie die Muskelstränge vom Fuß über die Wade, den Oberschenkel, das Becken und die Wirbelsäule bis hoch zur Schulter bei einer Drehung ineinandergreifen, dann ist klar, wie eine Umarmung aussehen muss, mit der ich als Führender möglichst viele Informationen über die Position und die Bewegung der Folgenden wahrnehmen kann.

Der theoretische Unterricht

Zusätzlich sollte man im Tango Unterricht auch analytisch vorgehen. Den meisten Tänzern ist gar nicht bewusst, was sie genau machen, wenn sie tanzen. Der theoretische Unterricht sollte hier Hilfestellung bieten und das theoretische Fundament liefern, auf dem die Bewegungen und die Abläufe beim Tanzen basieren.

Zu diesem theoretischen Fundament gehören zum Beispiel:

  • Das grundsätzliche Verhältnis zwischen meiner Tanzpartnerin, der Musik und mir, das ich in der drei-Säulen-Theorie formuliert habe.
  • Der grundsätzliche Ablauf jedes einzelnen Schrittes, den ich in der Schritt-für-Schritt Anleitung beschrieben habe.
  • Die Theorie der drei Zeitebenen, in der ich beschreibe, was der Führende alles beachten muss, während er einen Schritt führt und den nächsten Schritt vorbereitet.
Wahrscheinlich gibt es hier noch viel mehr Punkte, die mir als Amateur gar nicht bewusst sind. Insofern ist diese Liste nur als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen zu verstehen.

Zusammenfassung

Als Ingenieur weiß ich: Nichts ist praktischer als eine gute Theorie. Deswegen bin ich der Überzeugung, dass ein Tango Unterricht, der nicht nur die praktischen Aspekte vermittelt sondern auch die theoretischen Grundlagen erklärt, den Schülern deutlich mehr nutzen würde als der klassische Unterricht. Insbesondere kann ein Schüler dann viel besser verstehen, warum eine bestimmte Bewegung nicht funktioniert, was die Ursache für einen Fehler ist, oder warum eine Folgende seine Führung nicht versteht. Wenn er die theoretischen Grundlagen kennt und weiß, worauf er achten muss, wird er sehr viel schneller zu einem sehr viel besseren Tänzer.

Daher die erste Frage in die Runde: Kennt ihr Tango Lehrer, die in ihrem Unterricht auch die theoretischen Grundlagen des Tangos vermitteln? Gibt es vielleicht auch schon Literatur zum Thema?

Leider habe ich keinerlei Erfahrung in Didaktik. Daher ist meine zweite Frage in die Runde, wie man die oben skizzierten Elemente im Unterricht erklären und einüben kann. Macht man das am besten weiterhin über bestimmte Figuren? Oder gibt es andere Wege, mit denen man die theoretischen Grundlagen des Tangos effizienter vermitteln kann? Und vor allem: Wann sollten diese theoretischen Überlegungen in den Unterricht einfließen? Sie sind zum Teil sehr subtil, sodass ein Anfänger, der noch nicht über das nötige Gespür verfügt, wahrscheinlich komplett überfordert wäre.

Ich freue mich auf Eure Rückmeldungen!

Zum Schluss noch eine Anmerkung, damit keine Missverständnisse aufkommen: Man kann Tango nicht allein durch Unterricht erlernen. Man muss auch üben, üben und noch mehr üben. Ich habe mal irgendwo die Faustregel gehört, dass man auf eine Stunde Unterricht fünf Stunden üben muss, bevor das Gelernte im Körper angekommen ist. Deswegen sind Practica und Milongas (mit unterschiedlicher Musik und unterschiedlichen Tanzpartnerinnen) unabdingbar für das tänzerische Weiterkommen.

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