Eine Schritt-für-Schritt Anleitung

Eigentlich möchte ich in diesem Blog keine Technik-Tipps geben. Aber ein bestimmtes Detail hat so viel an meinem Tanzstil verbessert, dass ich doch darüber schreiben muss. Insbesondere, weil dieser Punkt nach meinen Erfahrungen im Tango Unterricht nie explizit thematisiert wird.

Es geht um Herren- und Damenschritte. Genauer: Es geht um das Bewusstsein, mit dem ich über Herren- und Damenschritte nachdenke. Die meisten Tänzerinnen und Tänzer nehmen an, dass diese ähnlich funktionieren und darum auch gleichartig getanzt werden. Aber leider ist das Gegenteil richtig: Herren- und Damenschritte haben beim Tango Argentino völlig unterschiedliche Aufgaben und werden daher auch vollkommen unterschiedlich getanzt. Wenn man sich als Führender dieses Unterschiedes bewusst ist, dann vereinfacht das die Führung enorm und der gesamte Tanz als Paar wird deutlich fließender. Und neue Figuren lassen sich auch viel leichter erlernen.

Der grundsätzliche Ablauf eines Schrittes im Tango Argentino ist wie folgt (siehe auch den Abschnitt "Kommunikation im Paar" im Beitrag Figur-zentrierter Tango vs. Paar-zentrierter Tango):

  1. Der Führende gibt einen Führungsimpuls.
  2. Dieser Impuls wird von der Folgenden aufgenommen und in eine Bewegung umgesetzt.
  3. Diese Bewegung umfasst einerseits den Schritt, den der Führende geführt hat, kann aber andererseits von der Folgenden um eigene Akzente wie z.B. Verzögerungen oder nicht geführte Verzierungen ergänzt werden.
    Diese müssen entsprechend klar und rechtzeitig an den Führenden kommuniziert werden. Das geschieht durch eine entsprechende Änderung in der Körperspannung der Folgenden.
  4. Erst dann, wenn sich die Folgende in Bewegung gesetzt hat, setzt der Führende seinen eigenen Schritt. Mit seinem Schritt begleitet der Führende den Schritt der Folgenden. Sein Schritt beginnt immer nach ihrem Schritt und er endet immer nach ihrem Schritt.
    Durch diese Begleitung ist gewährleistet, dass sich das Paar immer harmonisch zusammen bewegt. 
    Außerdem ist hierdurch gewährleistet, dass der Fuß des Führenden genau dort landet, wo er ihn für den nächsten Schritt braucht - egal, wie groß oder wie klein die Bewegung der Folgenden ist. 
  5. Dabei berücksichtigt der Führende die Signale der Folgenden, zum Beispiel, wenn sie eine nicht geführte Verzierung einbauen möchte.

Jeder einzelne Schritt ist damit ein vollständiger Dialog zwischen Führendem und Folgender.

Der Damenschritt hat damit zwei Aufgaben:

  1. Aus den Schritten der Dame ergibt sich die Figur, die getanzt wird. Ocho, Kreuz, Linksdrehung, Moulinette usw. sind alles Bewegungen der Folgenden, nicht des Führenden. (Es gibt auch Ausnahmen, zum Beispiel, wenn der Führende um die Folgende herumläuft und sie auf der Stelle dreht. Diese Ausnahmen sind für die Aussage dieses Artikels aber ohne Bedeutung.)
  2. Bezüglich der Kommunikation im Paar hat die Folgende die Aufgabe, dem Führenden klar zu kommunizieren, in welche Bewegung sie seinen Führungsimpuls umgesetzt hat. Deswegen basieren die Damenschritte auf einer Projektion, die der Bewegung des Beines vorangeht. Je klarer die Projektion ist, desto einfacher wird die Aufgabe des Führenden, weil er frühzeitig weiß, wo genau der Fuß der Folgenden am Ende des Schrittes landen wird.

Der Herrenschritt begleitet nun den Damenschritt. Aber was heißt das konkret? Wohin genau muss ich welchen Fuß als Führender setzen, wenn ich einen Schritt der Folgenden begleite? 

Die Antwort ist: Kommt darauf an!

Der Schritt des Führenden hat nichts mit dem aktuellen Schritt der Folgenden zu tun. Natürlich muss ich als Führender wissen, wo ihr Standbein ist. Das ist sozusagen der Nullpunkt meines Koordinatensystems. Aber wohin ich welchen Fuß in diesem Koordinatensystem setze, hängt nicht vom ihrem aktuellen Schritt ab. Mein Schritt dient vielmehr der Vorbereitung ihres nächsten Schrittes.

Ein einfaches Beispiel mag diesen Punkt erläutern. Nehmen wir die Schrittfolge, bei der die Folgende (aus ihrer Sicht) einen Schritt nach rechts machen soll, gefolgt von einem Schritt nach hinten. 

Der Führende muss also (aus seiner Sicht) als Begleitung einen Schritt nach links machen, gefolgt von einem Schritt nach vorne. Welchen Fuß er wohin setzen muss, hängt aber nicht von diesen beiden Schritten ab, sondern davon, was danach passieren soll:

  1. Wenn der Führende "ganz normal" gehen möchte, dann setzt er beim Linksschritt seinen linken Fuß vor ihren rechten Fuß und geht anschließend mit seinem rechten Fuß in der Spur ihres linken Fußes (also auf der Innenseite) nach vorne.


  2. Wenn er die Folgende ins Kreuz führen möchte, dann setzt er beim Linksschritt seinen linken Fuß links von ihrem rechten Fuß und geht anschließend mit seinem rechten Fuß auf der Außenseite nach vorne.


  3. Wenn er die Folgende im Valse ins Kreuz führen oder eine Barrida tanzen möchte, dann setzt er beim Linksschritt seinen linken Fuß links von ihrem rechten Fuß, gibt ihr den Führungsimpuls für den Rückwärtsschritt und macht dann einen Gewichtswechsel auf seinen rechten Fuß damit er einen Vorwärtsschritt mit seinem linken Fuß auf der Außenseite machen kann.

Der Schritt der Folgenden nach hinten kann also vom Führenden begleitet werden durch einen Vorwärtsschritt auf der Innenseite oder auf der Außenseite, mit dem linken Fuß oder mit dem rechten Fuß. Welche der Varianten vom Führenden gewählt wird, hat für den Rückwärtsschritt der Folgenden keine Bedeutung. Deswegen gibt es für die Schritte des Führenden auch keine Projektion.

Für viele Führende ist dieser Ablauf nach meiner Beobachtung einer der Punkte, der sie am meisten verwirrt. Die Folgende soll in verschiedenen Figuren exakt dieselben Schritte tanzen, aber ich als Führender soll jeweils ganz unterschiedliche Schritte machen? Wie passt das zusammen? Muss ich als Führender wirklich für jede Figur die Herrenschritte neu lernen und mir letztlich eine Unzahl von Schrittkombinationen merken?

Nein, keineswegs. Ich muss als Führender lediglich zwei Punkte beachten:

  1. Führung hat mit den Schritten des Führenden nichts zu tun. Die Führung erfolgt ausschließlich aus dem Rumpf (eventuell mit ein bisschen Unterstützung aus den Armen, aber da scheiden sich schon die Geister). Deswegen ist der Gewichtswechsel im Beispiel 3.) für die Folgende ohne Bedeutung, weil der Gewichtswechsel erst erfolgt, nachdem sie den Führungsimpuls für ihren Rückwärtsschritt erhalten und in Bewegung umgesetzt hat. 
  2. Der Schritt des Führenden hat nichts mit dem aktuellen Schritt der Folgenden zu tun, sondern er bereitet den nächsten Schritt vor. Der Führende muss also nur wissen, von wo aus er den nächsten Schritt der Folgenden am bequemsten führen kann. Dorthin bewegt er sich. "Wissen" heißt dabei nicht "auswendig lernen", sondern "spüren, was die Dynamik der Bewegung erfordert".

Diese Art über die Herrenschritte nachzudenken macht den Tanz als Paar deutlich fließender und erlaubt eine deutlich variantenreichere Art zu tanzen. Außerdem vereinfacht dieser Ansatz das Erlernen neuer Figuren enorm, weil man sich nicht mehr die Schrittkombinationen jeder einzelnen Figur merken muss. Die Herrenschritte ergeben sich ganz natürlich aus den Damenschritten, die geführt werden. Und die Damenschritte muss ich als Führender sowieso kennen. Wie soll ich eine Folgende führen, wenn ich nicht weiß, was ich von ihr haben will?

Im Tango Unterricht habe ich bei der Fehleranalyse schon mehrfach die Aussage gehört: "Der Fehler passiert nicht in dem Schritt, in dem der Fehler auftritt, sondern einen Schritt davor." Diese Erklärung macht wenig Sinn, wenn "der Herrenschritt den Damenschritt begleitet." Aber sie macht sehr viel Sinn, wenn klar wird, dass der Herrenschritt mit dem aktuellen Schritt nichts zu tun hat sondern vielmehr den nächsten Schritt vorbereitet.

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