Figur-zentrierter Tango vs. Paar-zentrierter Tango

Dieser Beitrag wird etwas länger.

Die wesentlichste Erkenntnis meiner "Erleuchtung" im Herbst 2021 besteht darin, dass es im Tango Argentino zwei vollkommen unterschiedliche Tanzstile gibt. Die beiden Tanzstile teilen zwar dasselbe Vokabular und dieselbe Technik, aber sie unterscheiden sich fundamental in der Art des Tanzes.

Ich werde diese beiden Tanzstile im Folgenden als "Figur-zentrierten Tango" bzw. "Paar-zentrierten Tango" bezeichnen und die Unterschiede zwischen den beiden Tanzstilen erklären. Übertreibungen sind nicht absolut gemeint, sondern dienen lediglich der Verdeutlichung. 

Nach der Erleuchtung bestand meine Arbeit im Wesentlichen darin, meinen Tanzstil komplett umzustellen, vom Figur-zentrierten Tango hin zum Paar-zentrierten Tango. Diese Umstellung hat mehr als ein halbes Jahr sehr intensiver Tanzarbeit benötigt.

Der Figur-zentrierte Tango

Ausgangslage

Das zentrale Element des Figur-zentrierten Tango ist die Figur. Das Ziel eines Tango-Tänzers besteht also darin, möglichst viele und möglichst komplexe Figuren zu beherrschen. Das Ziel des Tango-Unterrichts ist es daher, den Schülern möglichst viele und im Lauf der Zeit immer komplexere Figuren beizubringen. 

Aufbau einer Figur

Figuren bestehen aus Schritten für den Führenden (Herrenschritte) und Schritten für die Folgende (Damenschritte). Tänzer lernen ihre Schritte unabhängig voneinander und sie können diese auch individuell verbessern. 

Der Fokus des Führenden

Der Fokus des Führenden liegt auf seinen eigenen Schritten. Denn durch seine Herrenschritte erzeugt er die Figuren. Die Erwartung des Führenden ist, dass die Folgende ihre Bewegungen an seine Schritte anpasst.

Der Fokus der Folgenden

Figuren sind grundsätzlich in sich abgeschlossen, das heißt, sie werden immer vom ersten bis zum letzten Schritt getanzt. Für eine Folgende ist es daher wichtig, die Damenschritte einer Figur vollständig zu beherrschen. Es ist außerdem sehr hilfreich, wenn sie während des Tanzes möglichst früh versteht, welche Figur gerade geführt wird. Das hilft ihr dabei, die Bewegungen im Paar zu synchronisieren.

Jeder Führungsimpuls des Führenden wird also zunächst analysiert, um ihn einer Figur zuzuordnen, bevor er in eine Bewegung umgesetzt wird.

Kommunikation im Paar

Eine Figur wird dadurch geführt, dass der Führende seine Herrenschritte tanzt. Die Folgende reagiert darauf, indem sie ihre Damenschritte tanzt. Für die Folgende ist es daher essentiell wichtig zu verstehen, welche Figur vom Führenden getanzt wird.

Die Synchronisation zwischen dem Führenden und der Folgenden erfolgt im wesentlichen durch die Taktschläge der Musik. Deswegen gehört zu jeder Figur auch ein bestimmtes Tempo, in dem jeder Schritt getanzt wird. Wenn einer der Tanzpartner von diesem Tempo abweicht, dann bringt er damit den anderen ins Stolpern.

Ebenso wenig ist es erwünscht, dass die Folgende eigene Akzente setzt, also zum Beispiel nicht geführte Verzierungen in den Tanz einbringt. Diese Akzente werden vom Führenden eher als störend empfunden, weil sie den geplanten Ablauf der Figur unterbrechen.

Die Umarmung

Da die Führung im Wesentlichen durch die Herrenschritte erfolgt, ist die Umarmung nicht besonders wichtig. Es wird eine offene Tanzhaltung bevorzugt. Diese Tanzhaltung gibt dem Führenden genug Spielraum, um seine Herrenschritte zu setzen.

Der Paar-zentrierte Tango

Ausgangslage

Tango Argentino ist ein Paartanz. Ziel des Tanzes ist es also, als Paar harmonisch zusammen zu tanzen. Aufgabe des Führenden ist dabei, die Folgende möglichst gut aussehen zu lassen. Der beste Tango-Tänzer ist also derjenige, der sich am besten auf seine Tanzpartnerin einstellen kann.

Das zentrale Element des Paar-zentrierten Tango ist der einzelne Schritt. Natürlich gibt es auch Figuren, aber die sind letztlich nur Bezeichnungen für bestimmte Schrittfolgen. Für den Tanz selber haben sie keine Bedeutung. 

Aufbau einer Figur

Eine Figur besteht aus mehreren Schritten. Jeder Schritt endet mit einer stabilen Position. Es ist daher nicht notwendig, eine Figur am Stück bis zum Ende durchzutanzen. Eine Figur kann an jeder stabilen Position unterbrochen werden, um sie auf andere Weise fortzusetzen.

Dieser Dekonstruktion von Figuren werde ich einen eigenen Blog Beitrag widmen.

Der Fokus des Führenden

Der Fokus des Führenden ist zu 100% bei der Folgenden. Er muss jederzeit wissen, wo ihr Standbein steht, was ihr Spielbein macht, wie ihre Hüfte gedreht ist, wie ihre Schultern gedreht sind, und wohin, mit welcher Energie und mit welchem Tempo sie sich gerade bewegt.

Ziel des Tanzes ist eine fließende harmonische Bewegung. Der Führende nutzt dabei die Energie der Folgenden um die Bewegung fortzuführen. 

Der Fokus der Folgenden

Da es im Paar-zentrierten Tango nur einzelne Schritte gibt, muss jeder einzelne Schritt explizit geführt werden. Für die Folgende ist es dabei letztlich ohne Bedeutung, welche Figur aus diesen Schritten entsteht. Sie muss nur die grundsätzlichen Elemente des Tango kennen (Gehschritte, Drehungen, Barridas, Boleos, Ganchos, Planeos usw.), aber sie braucht sich keine Figuren und keine Damenschritte zu merken.

Der Fokus der Folgenden liegt vollständig beim Führenden und seinen Führungsimpulsen. Diese werden unmittelbar umgesetzt, ohne zu überlegen, welche Figur gemeint sein könnte. Dabei wird die Musik bei der eigenen Gestaltung von Verzögerungen oder Verzierungen berücksichtigt.

Die Folgende achtet dabei darauf, 

  1. dass sie ihre Achse behält (außer diese wird explizit aufgehoben, zum Beispiel bei Colgadas),
  2. dass sie den Abstand zum Führenden beibehält,
  3. dass sie ihre Schritte deutlich setzt und damit dem Führenden klar kommuniziert, wo ihr Fuß landen wird,
  4. dass ihr Spielbein locker ist und damit dem Führenden für Ganchos, Volcadas usw. zur Verfügung steht.

Kommunikation im Paar

Jeder einzelne Schritt wird geführt. Dabei hat jeder Schritt den folgenden Ablauf:

  1. Der Führende gibt einen Führungsimpuls.
  2. Dieser Impuls wird von der Folgenden aufgenommen und in eine Bewegung umgesetzt.
  3. Diese Bewegung umfasst einerseits den Schritt, den der Führende geführt hat, kann aber andererseits von der Folgenden um eigene Akzente wie z.B. Verzögerungen oder nicht geführte Verzierungen ergänzt werden.
    Diese müssen entsprechend klar und rechtzeitig an den Führenden kommuniziert werden. Das geschieht durch eine entsprechende Änderung in der Körperspannung der Folgenden.
  4. Erst dann, wenn sich die Folgende in Bewegung gesetzt hat, setzt der Führende seinen eigenen Schritt. Mit seinem Schritt begleitet der Führende den Schritt der Folgenden. Sein Schritt endet immer nach ihrem Schritt.
    Durch diese Begleitung ist gewährleistet, dass sich das Paar immer harmonisch zusammen bewegt. 
    Außerdem ist hierdurch gewährleistet, dass der Fuß des Führenden genau dort landet, wo er ihn für den nächsten Schritt braucht - egal, wie groß oder wie klein die Bewegung der Folgenden ist. 
  5. Dabei berücksichtigt der Führende die Signale der Folgenden, zum Beispiel, wenn sie eine nicht geführte Verzierung einbauen möchte.

Jeder einzelne Schritt ist damit ein vollständiger Dialog zwischen Führendem und Folgender.

Die Umarmung

Jeder Führungsimpuls erfolgt durch den Rumpf. Nicht durch die Beine, nicht durch die Arme, nicht durch die Berührung der Köpfe. Die Umarmung ist daher essentiell für die Führung. Dabei ist eine direkte Verbindung zwischen den Tanzenden wünschenswert. 

Bevorzugt wird daher knall eng, "Herz an Herz" getanzt. Das ist für die Kommunikation im Paar am besten. Bei offenen Figuren wie zum Beispiel der Americana wird die enge Umarmung explizit kurzzeitig aufgelöst - um so bald wie möglich wieder in die geschlossene Tanzhaltung zu wechseln.

Zusammenfassung

Ich bin mit dem Figur-zentrierten Tango aufgewachsen. Erst als ich angefangen habe, über die Verbindung im Paar nachzudenken und welche Konsequenzen es hat, wenn man diese Verbindung aufbauen und permanent erhalten möchte, wurde mir immer klarer, dass ich mit dem Figur-zentrierten Tango nicht weiterkomme. Der Wechsel hin zum Paar-zentrierten Tango hat es mir ermöglicht, 
  • viel variabler und kreativer zur Musik zu tanzen,
  • mit unterschiedlichen Frauen so zu tanzen, dass sowohl sie als auch ich Spaß daran haben, miteinander zu tanzen.

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