Wer geht auf den Taktschlag?

In der letzten Zeit war ich viel unterwegs und habe einige unterschiedliche "Denkschulen" / Herangehensweisen kennengelernt. Früher hätte ich gesagt: Beide Seiten haben gute Argumente und man muss selber ausprobieren, was am besten zu einem passt. Aber inzwischen habe ich bei vielen Themen doch eine sehr klare Meinung. Ich möchte daher in den kommenden Blog Beiträgen bei einigen Details erklären, welche Varianten es gibt und welche davon für mich gut funktionieren und welche nicht.

In diesem Beitrag geht es um folgendes Problem: Der Führende und die Folgende setzen ihre Schritte zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Den genauen Ablauf der Kommunikation im Paar und zum Timing der Bewegungen habe ich in diesem Blog Beitrag beschrieben. Für das Timing gilt dabei: Erst dann, wenn sich die Folgende in Bewegung gesetzt hat, setzt der Führende seinen eigenen Schritt. Mit seinem Schritt begleitet der Führende den Schritt der Folgenden. Sein Schritt beginnt also immer nach ihrem Schritt und sein Schritt endet immer nach ihrem Schritt.

Nun ist die Frage: Wer von den beiden tanzt auf den Taktschlag der Musik? Wenn es der Führende ist, dann ist die Folgende einen Tick zu früh. Wenn es die Folgende ist, dann ist der Führende einen Tick zu spät. Welche Variante ist die bessere?

Hier ist meine Meinung eindeutig: Tango Argentino ist zwar im Prinzip ein Paartanz. Tatsächlich ist es aber fast immer die Folgende, die die Figuren tanzt. Die Folgende geht ins Kreuz, die Folgende tanzt die Ochos, die Folgende dreht ihre Moulinette, die Folgende führt den Voleo aus usw. usf. 

Daher ist für mich klar: Es ist die Folgende, die ihre Schritte präzise auf den Taktschlag der Musik setzt. Und der Führende beendet seinen Schritt erst nach der Folgenden, also unter Umständen erst nach dem Taktschlag.

Der Vorteil: Das ist das, was eine Folgende normalerweise sowieso anstrebt. Insofern muss ich als Führender nichts Besonderes unternehmen, um dieses Timing zu erreichen.

Der Nachteil: Als Führender tanze ich meine eigenen Schritte möglicherweise außerhalb des Taktschlags. 

Das fühlt sich anfangs sehr merkwürdig an. Seit ich es mir konsequent angewöhnt habe, ergeben sich allerdings für mich aus diesem Timing drei wichtige Vorteile:

  1. Einer meiner Tango Lehrer hat gesagt: "Im Tango tanze ich nicht mit meinen eigenen Füßen sondern ich tanze mit den Füßen meiner Tanzpartnerin." Mein Fokus liegt also nicht auf meinen eigenen Schritten sondern auf ihren Schritten. Und die lassen sich natürlich viel einfacher führen, wenn ich ihre Füße präzise zum Taktschlag setze.
  2. Wenn ich der Musik gehorche und versuche, meine eigenen Schritte auf den Taktschlag zu setzen, dann wird mein Tanz manchmal sehr hektisch, weil ich die Schritte meiner Tanzpartnerin einhole oder sogar überhole. Wenn ich dagegen meine Schritte konsequent erst nach ihren Schritten setze, dann wird mein Tanz ganz von alleine sehr viel ruhiger und stabiler.
  3. Dadurch, dass ich meine Schritte erst nach den Schritten meiner Tanzpartnerin setze, öffne ich die Kommunikation im Paar. Meine Tanzpartnerin kann jederzeit Verzierungen einbauen oder das Tempo der Bewegung ändern, ohne dass ich dadurch aus dem Takt gerate.

Insgesamt überwiegen für mich hier also deutlich die Vorteile.

Konsequenzen für den Tango Unterricht:

Im Tango Unterricht erlebt man häufig die folgende Vorgehensweise: Die Führenden lernen bei einer Figur erst einmal ihre eigenen Schritte und erst danach tanzen sie mit den Folgenden. Das führt dazu, dass die Führenden zunächst einmal ihre eigenen Schritte auf den Taktschlag tanzen. Erst danach lernen sie, was und wie sie führen sollen. Und erst dann lernen sie, dass das Timing so nicht funktioniert und dass sie nicht ihre eigenen Schritte sondern die Schritte der Folgenden auf den Taktschlag setzen sollen. 

Das funktioniert offensichtlich in der Praxis nicht. Deswegen ist für mich ebenfalls klar: Im Tango Unterricht muss jede Figur von Anfang an im Paar eingeübt werden. Wenn die Führenden eine Figur zunächst alleine einüben, dann gewöhnen sie sich dabei ein Timing an, das später im Zusammenspiel mit der Folgenden nur zu Problemen führt.

Nachtrag:

Aus der Tango Community kam ein wichtiger Hinweis: Der Taktschlag ist kein bestimmter Zeitpunkt, sondern er hat eine zeitliche Dauer. Dadurch ist es möglich, dass der Führende einerseits seine Schritte erst nach der Folgenden setzt, aber trotzdem noch auf den Taktschlag tanzt.

Das ist genau das Timing, dass man anstreben sollte.

Kommentare

  1. Meine Führung sollte in keiner Weise das Tanzen im Compas beeinflussen. Führende(r) und Folgende(r) hören doch beide die Musik, jeder tanzt imTakt, meine Führung gibt Impulse zu Richtungswechseln, Drehungen etc. Die Führung sollte dabei möglichst früh erfolgen, spätestens zum aufsetzenden Fuß des/der Folgenden. Beide setzen im Idealfall gleichzeitig auf. Ich führe die Füße der Frau, das Setzen meiner eigenen Füße ist dabei eher nebensächlich. Trotzdem würde es mich extrem stören und einen genussvolles Tanten unmöglich machen, wenn ich nicht zur Musik tanzen würde.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Wie ich schon in diesem Blog Beitrag beschrieben habe, erfordert die Kommunikation im Paar, dass der Führende den Schritt der Folgenden begleitet. Und das heißt, dass er seinen Schritt einen winzigen Moment später setzten muss als die Folgende.
      https://helgestangoblog.blogspot.com/2022/10/eine-schritt-fur-schritt-anleitung.html

      Löschen
    2. Ich begleite den Schritt der Folgenden nicht, jedenfalls nicht mit meinen Füssen, die gehen u. U. auch ganz anders, ich könnte ja z. B. verdoppeln während sie im Compas geht. Außerdem kann sie ja auch schon alleine gehen. Begleitung braucht sie nur in meiner Umarmung.

      Löschen
  2. Die Diskussion über zeiltl. Abfolgen machen nur Sinn, wenn man Kommunikation und Musikaltiät als linearen Ablauf betrachtet. Dann kann man aber eh unmöglich auf den Takt tanzen, da es beim Hören des Taktschlages ja schon zu spät ist, um dann noch eine Bewegung auszuführen, die den Takt noch trifft. Also kann es beim Tanzen nur darum gehen, schon vorher zu wissen (ahnen), was gleich kommt und das gilt natürlich genauso auch für Führungsimpulse, die Bewegung des Folgenden und wiederum die Bewegung des Führenden. Im Idealfall passiert das gleichzeitig. Wenn nciht kann es trotzdem Spass machen.
    Übertheoretisierung, Millisekunden zählen und das Streben nach Perfektion und ist m.M. meist ein Killer für das Tanzvergnügen.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Letztlich geht es in diesem Beitrag um meine Prioritäten. Was ist mir wichtiger: Auf den Taktschlag zu tanzen? Oder die Folgende bei ihren Schritten zu begleiten? Und da ist meine Erfahrung eindeutig: Das Tanzvergnügen steigt enorm, wenn meine Priorität auf der Folgenden liegt und der Taktschlag erst an zweiter Stelle kommt.

      Löschen
  3. > Tatsächlich ist es aber immer die Folgende, die die Figuren tanzt.

    Echt jetzt? Wie langweilig! Wenn der Führende besser ist, kann er z.B. die Molinete der Frau mit einem Lapiz, Enrosque und anderen Verzierungen begleiten.

    > Wenn die Führenden [...] nur zu Problemen führt.

    Zu welchen Problemen soll es führen, wenn du lernst z.B. den Ocho cortado 2x quick-quick-slow zu tanzen bzw. zu führen?

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Du willst einen Ocho Cortado üben ohne Tanzpartnerin? Damit kriegst Du vielleicht den Rhythmus für die Schritte hin. Aber ganz sicher nicht die Führung eines Ocho Cortado.

      Löschen
    2. Zum Thema Verzierungen des Führenden: Ich bin 1,90m groß. Wenn ich einen Lapiz mache, dann räume ich in der Ronda die Spuren links und rechts von mir ab. Also lasse ich das. Ich kenne auch niemanden, der so etwas im Tango de Salon tanzt. Das ist etwas für den Showtanz. Aber dort gelten sowieso andere Regeln. In einer einstudierten Choreografie können natürlich auch beide synchron tanzen.

      Löschen
  4. "Du willst (...) Tanzpartnerin"

    Jein. Erst muss der Mann/Leader seine eigenen Schritte (hier vor allem Rebound/Rebote) soweit automatisiert haben, bevor er sich überhaupt auf Führung bzw Musik konzentrieren kann.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. So unterrichte ich den Ocho cortado: https://jochenlueders.de/?p=17083

      Löschen
  5. Kann beide Antworten nur bestätigen.
    Die alte Frage wer sich im Paar nach wem richtet ist wie das alte Problem des Eies & des Huhns, aber wenn sich der Führende über die Partnerin definiert, bzw. seine Schritte und Bewegungen angepasst zu ihren macht, ist es einfacher als umgekehrt. Fazit: Die Schritte des Mannes sind die Konsequenz aus den Schritten der Frau. Kennt nur kaum jemand, weil man es früher anders gemacht hat. Das, was Helge hier beschreibt, ist modernste Führungstechnik im Paartanz. Milongeros, die viel tanzen, machen es so. Beispiel. Teté Rusconi, der seineSchritte nie repruduzieren konnte, weil er sich nur über ihre Schritte identifizerte. Seine Schüler sind daran verzweifelt, bis einige dahintergekommen sind, wie's funktioniert. Auch der Lapiz ist keine Solobewegung sondern mit rück-seit-vor Ablauf in der Drehung der Frau koordiniert.
    1. Wenn man sich also als Führender zuerst auschließlich auf die Bewegungen der Partnerin bezieht entstehen oft die pasenden Begleitschritte des Führenden von ganz allein. Also wird man allein über Soloübungen nicht die Führung lernen.
    2. Drehungen mit Lapiz und Enrosques sind auf gefüllten Tanzflächen nicht gut umsetzbar, weil sie den Raum um die Rondaspur beanspruchen. Man sieht sie oft bei Paaren in den Contests für Pista, aber nur , weil dort nur in einer Spur getanzt wird.

    AntwortenLöschen
  6. So tanze (und unterrichte) ich: https://www.youtube.com/watch?v=obHpz1wex_M

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. In dem Video sieht man sehr schön, dass sich zuerst die Folgende in Bewegung setzt und der Führende erst danach seinen Schritt beginnt. Das sieht man sonst nicht so deutlich. Danke für das Anschauungsmaterial!

      Löschen
  7. Und so unterrichte (und tanze) ich den Ocho cortado:
    https://www.youtube.com/watch?v=UcxcIj8Md4Q
    Funktioniert in der Praxis. ;-)

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Also von vornherein zusammen mit deiner Tanzpartnerin. Sehr vernünftig!

      Löschen
    2. Ich habe geschrieben:
      "Erst muss der Mann/Leader seine eigenen Schritte (hier vor allem Rebound/Rebote) soweit automatisiert haben, bevor er sich überhaupt auf Führung bzw Musik konzentrieren kann."
      Was genau verstehst du an diesem Satz nicht? In dem Video werden ja auch die Schritte der Mannes gezeigt.

      Löschen
    3. Ich verstehe den Satz durchaus. Aber ich verfolge genau die gegenteilige Philosophie: Mein Ziel ist gerade nicht, dass ich meine eigenen Schritte automatisiere. Sondern mein Ziel ist, dass ich die Füße meiner Tanzpartnerin im genannten Rhythmus führe. Deswegen überzeugt mich dieser Ansatz nicht.

      Löschen
    4. Letzter Kommentar von Helge spricht das entscheidende aus: Nicht an die eigenen Schritte denken, sondern an die Schritte der Frau!
      Es ist ein mentaler Prozess, ein Gedankenmodus.
      Beispiel: Wenn ich mich beim Autofahren mit einem Mitfahrer unterhalte, steuere ich das Fahrzeug unterbewusst weiter. Meine Gandanken sind beim Gespräch.
      Übertragen heißt das, wenn ich im Tango vorwärtslaufe konzentriere ich mich nicht auf meine Schritte, weil ich mitterweile gehen gelernt habe, sondern ausschließlich auf die Führung, bzw. Bewegungen der Partnerin. Aussagen in meinen Gedanken und meiner Aufmerksamkeit: "Ich gehe nicht vorwärts, sondern führe die Partnerin so, dass sie in der Lage ist, Ihr Bein auszustrecken - zu projizieren -, ihre Fusskante im Taktschlag aufzusetzen und begleite sie, wenn sie den Fussbelastet hat." Das kann man spüren und beeinflussen.
      Das kann man auch, wenn man keinen eleganten Tangoschritt studiert hat. "Man lernt auch nicht Fahrradfahren, wenn man versucht ästhetisch Fahrrad zu fahren." (Mauricio Castro in seinem Buch "Die Struktur des Tangos" Kapitel "Der Fusionspunkt")
      Wenn ich einen Nagel einschlagen will, konzentriere ich mich nicht auf den Hammer, sondern auf den Nagel.
      Dass dieses entscheidende Gedanken- und Führungsmodell, das die wirklich guten Tänzer beherrschen, aber bei vielen nichtt ankommt, kann ich aus zahlreichen Unterrichtsstunden belegen. Das liegt aber daran, dass sich die wenigsten mit dieser Idee beschäftigen wollen, warum auch immer.

      Löschen
    5. > Meine G[e]danken sind beim Gespräch.

      Und das können sie nur, weil du bereits Autofahren kannst, also alles völlig automatisiert hast und dich nicht mehr darauf konzentrieren musst. Als FahrANFÄNGER kannst du nicht nebenher noch plaudern, weil du dich eben aufs Fahren konzentrieren musst. Und ja, doch die "wirklich guten Tänzer" können das vielleicht. Aber Helge behauptet, dass das auch Anfänger könnten und das ist schlichtweg falsch.
      Nehmen wir an, du kannst keine Rumba. Ich zeige dir jetzt, was die Frau beim "Hockey Stick" macht und sage dir, dass du dich nur auf IHRE Schritte konzentrieren sollst und dann machst du die "pas[s]enden Begleitschritte des Führenden von ganz allein". Ich glaube nicht, dass das funktioniert.

      Löschen
    6. Nicht glauben, aber einfach behaupten, dass das, was Helge und ich sagen, schlichtweg falsch ist? Wie kannst Du das wissen, wenn Du's nicht ausprobiert hast? Ich habe den empirischen Beweis, dass es in vielen Bewegungen geht, weil ich es so unterrichte. Außerdem könnte man einen ganzen Tango führen, ohne einen einzigen Schritt zu setzen, nur mit den Schritten der Frau. Wenn ich also eine Theorie praktisch umsetzen kann, sind unsere Theorien (also mein und Helges) somit bewiesen. Auch wenn Du es nicht glauben willst. Der Irtum ist, dass viele Führende immer Schritte zur Führung voraussetzen. Ich kann auch eine Partnerin einen ganzen Schrittablauf ohne selbst einen Schritt zu setzen auf der Stelle im Kreis führen. Danach kann ich sie mit unterschiedlichen Schritten in jedem ihrer vorher geführten Schrittabläufen begleiten. Dazu gibt es theoretisch in jeder Position 6 Möglichkeiten. D.h. Dass ich die Führung vorher lernen kann, ohne einen Schritt zu lernen. (nur, wenn ich Rückwärtsschritte der Partnerin in Linie führen muss - also von mir weg - muss ich sie mit Schritten begleiten. Auch hier kann ich ihere Schritte erst führen und dann begleiten.) Und die Rumba ist ein völlig anderer Tanz, mit ganz anderen Abläufen.
      Übrigens: Fahrschüler können sehr wohl während der Fahrt sprechen und zuhören. Sie können sich dann zwar nicht im Augenblick auf die Abläufe konzentrieren, aber sehr wohl auf Gefahrensituationen reagieren. Beim Führen konzentriert man sich auch zwischendurch auf die eigenen Schritte, aber zu 70-90% auf die Partnerin.

      Löschen
    7. > Wie kannst Du das wissen, wenn Du's nicht ausprobiert hast?

      Ich kann nichts ausprobieren, wenn ich keine Ahnung habe, wie es funktionieren soll. Ich konnte z.B. sehr lange keine seitlichen Colgadas tanzen/führen, obwohl ich die ganze Zeit genau wusste, was die Frau macht. Aber ich hatte halt keine präzise Vorstellung davon, wie ICH das Ganze führen soll. Erst vor kurzem habe ich bei einem Workshop mit Rafael & Susanne die entscheidenden Hinweise bekommen. Wenn mir also jemand erklärt: "Konzentrier dich auf die Schritte/Bewegungen deiner Partnerin, dann machst du schon automatisch das Richtige" dann kann ich nur sagen: "Nö, funktioniert nicht." Aber ich habe kein Problem damit, wenn es in deinem Unterricht klappt. We agree to disagree. ;-)
      PS. Rumba ist nicht "völlig anders".

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

Wieviel muss ich vom Tango verstehen um guten Tango zu tanzen?

Der perfekte Tango