Führende Folgende

Ich fürchte, heute muss ich mich mal so richtig in die Nesseln setzen. Es gibt einen Punkt, bei dem ich so gar nicht dem Mainstream folgen kann. Es geht um Frauen, die führen.

Die allgemeinen praktischen Vorteile, die zum Beispiel Melina Sedo in diesem Interview anspricht, kann ich nachvollziehen:

  • Frauen, die auch führen können, brauchen auf einer Milonga nicht darauf zu warten, dass sie aufgefordert werden, sondern sie können selber auffordern und kommen dadurch häufiger zum Tanzen.
  • Wenn im Tango Unterricht von vornherein beide Rollen unterrichtet werden, dann können sich Frauen auch ohne Partner anmelden. Da es typischerweise mehr Frauen als Männer gibt, die Tango lernen wollen, kommen so insgesamt mehr Frauen zum Tango Argentino.

Allerdings geht sie (und einige andere) noch weiter: Wenn eine Frau schon eine längere Erfahrung im Folgen hat, dann fällt es ihr angeblich deutlich leichter, das Führen zu lernen, und sie wird insgesamt auch die bessere Führungskraft sein.

Und hier muss ich sagen: Nein. Das widerspricht sowohl komplett meiner Erfahrung als auch meinem Verständnis vom Tango Argentino. Warum das so ist, möchte ich in diesem Beitrag genauer erläutern.

Vorab: Natürlich ist es von Vorteil, wenn man schon ein gutes Gefühl für Balance und Dynamik hat, wenn man anfängt führen zu lernen. Tanzerfahrung hilft, bevor man mit Tango Argentino anfängt. Aber welchen Tanz man vorher getanzt hat, ist ziemlich egal. Hier geht es um die Frage, ob die spezifischen Vorkenntnisse einer Folgenden beim Erlernen des Führens wirklich einen Vorteil bringen.

Zweite Vorbemerkung: Meine Beobachtungen und Anmerkungen beziehen sich auf den Amateurbereich. Professionelle Tango Lehrer sollten natürlich ein gewisses Verständnis von beiden Rollen haben, damit sie sowohl den Führenden als auch den Folgenden unter ihren Schülern Tipps geben können.

Beobachtungen aus der Praxis

Weil diese Überzeugung, dass Frauen auch führen lernen sollten, gerade en vogue ist, sehe ich inzwischen auf jeder Milonga mehrere Frauen in der Rolle des Führenden. Einige sind noch Anfängerinnen, andere haben schon jahre- oder jahrzehntelang in der Rolle der Folgenden getanzt.

Nützt ihnen diese Erfahrung etwas? Nicht wirklich. Wenn ich den Paaren auf der Milonga zuschaue, frage ich mich:

  • Gibt es Männer, bei denen ich mir denke: "Wow! So möchte ich auch führen können!"? Ja, davon gibt es einige.
  • Gibt es Frauen, bei denen ich mir denke: "Wow! So möchte ich auch führen können!"? Selten. Sehr, sehr selten. Und gar keine, wenn ich an Figuren denke, die etwas mehr körperlichen Einsatz erfordern wie zum Beispiel Colgadas. Männliche Führende kriegen das durchaus hin. Weibliche Führende, die Colgadas tanzen, habe ich (im Amateurbereich) noch keine gesehen.
Soweit ich das sehen kann, tun sich die Frauen, die schon Erfahrung als Folgende haben, weder leichter, die Rolle des Führenden zu lernen, noch werden sie zu besseren Führenden. 

Das finde ich allerdings auch nicht besonders überraschend, denn Führen und Folgen sind nach meinem Verständnis zwei vollkommen unterschiedliche Tätigkeiten. Das Argument, das erfahrene Folgende leicht führen lernen, klingt für mich ungefähr so, als ob man sagen würde: "Du bist doch Elektriker. Dann weißt Du doch, wie man Sachen zusammensteckt. Also bist Du doch auch bestimmt ein guter Klempner." Nicht wirklich überzeugend, oder?

Hier sind nach meinem Verständnis die wichtigsten fundamentalen Unterschiede zwischen dem Führen und dem Folgen:

"Du tanzt mit den Füßen der Folgenden"

Das sagte einmal ein Tango Lehrer zu mir, und das ist der wichtigste Unterschied zwischen Führen und Folgen: Die Schritte des Führenden und der Folgenden haben im Tango komplett unterschiedliche Bedeutungen. Während die Schritte Folgende die Figuren ausmachen, dienen die Schritte des Führenden dazu, die nächsten Schritte vorzubereiten

Ein typisches Problem von Folgenden, die Führen lernen, besteht genau darin, dass sie weiterhin selber tanzen wollen (und die Folgende hechelt dann irgendwie hinterher). Das ist aber gerade nicht die Aufgabe eines Führenden.

Das Timing

Eine direkte Konsequenz der unterschiedlichen Bedeutung der Schritte ist, dass das Timing der Schritte unterschiedlich ist. Während die Folgende ihre Schritte zum Takt der Musik setzt, sind die Schritte des Führenden, der die Schritte der Folgenden begleitet, ein kleines bisschen später.

Ein typisches Problem von erfahrenen Folgenden, die das Führen lernen, ist, dass sie die Folgende "überlaufen", weil sie selber auf den Takt der Musik gehen statt abzuwarten, bis die Folgende ihren Schritt gesetzt hat.

Der Fokus

Worauf achtet ein Führender bei seiner Tanzpartnerin? Ganz klar: Auf die Bewegungen der Folgenden. Ein Führender muss spüren, wie die Folgende auf seinen Führungsimpuls reagiert und wohin sie ihre Füße setzen wird, und er passt seine Schritte entsprechend an ihre Bewegungen an. Für ihn sind das Becken der Folgenden, ihre Beine und ihre Füße das Entscheidende.

Worauf achtet eine Folgende bei ihrem Tanzpartner? Sie achtet natürlich zunächst einmal auf den Führungsimpuls des Führenden, also auf die Bewegungen seines Oberkörpers. Wenn sie selber führen möchte, dann muss sie also ihren Fokus ganz woanders hinlegen als sie es bisher gewohnt ist.

Die Planung

Die Aufgabe einer Folgenden ist es, den geführten Schritt zu tanzen (zuzüglich eigener Verzierungen usw.). Sie ist also immer nur in einer einzigen zeitlichen Ebene unterwegs: In der Gegenwart, beim aktuellen Schritt. Alles andere ist egal: Der vorige Schritt ist Vergangenheit. Und wie der nächste Schritt aussehen wird, kann sie beim Tango Argentino, der improvisiert wird, nicht wissen.

Für den Führenden ist die Situation dagegen komplett anders. Er muss nicht nur den aktuellen Schritt führen, sondern er muss mindestens einen Schritt vorausplanen, damit er seine eigenen Füße so setzen kann, wie es dieser nächste Schritt erfordert. Ein Führender ist mental also immer gleichzeitig in mindestens zwei unterschiedlichen Zeitebenen unterwegs

Diese Fähigkeit muss auch jede Folgende erst einmal von Grund auf erlernen, egal, wie viel Erfahrung sie schon als Folgende hat.

Die Kontrolle des Raumes

Eine Folgende kann sich dem Tanz ganz hingeben. Viele Folgende genießen den Tanz mit geschlossen Augen. Sie spüren so besser die Musik und die Verbindung mit dem Führenden.

Für Führende wäre das fatal. Eine der Aufgaben eines Führenden ist die Kontrolle des Raumes. Er ist nicht nur für die Bewegungen des Paares verantwortlich, sondern auch dafür, dass das Paar tanzen kann, ohne dass es zu Kollisionen mit Wänden, Tischen oder anderen Tanzpaaren kommt.

Dabei muss er insbesondere auch mit den anderen Männern per Blickkontakt kommunizieren, zum Beispiel, damit sich diese in die Ronda einfädeln können. 

Mit geschlossenen Augen wird das schwierig. Auch hier muss sich eine Folgende umstellen, wenn sie lernt zu führen.

Zusammenfassung

Es gibt eine Reihe fundamentaler Unterschiede zwischen Führen und Folgen. Wer führen will, muss führen lernen. Punkt. Die Erfahrung als Folgende nützt dabei gar nichts. Im Gegenteil: Sie ist eher hinderlich. Ich sehe oft genug, dass Folgende erst einmal ihre alten Gewohnheiten ablegen müssen, die sie sich als Folgende angewöhnt haben, bevor sie offen werden für die neuen Fähigkeiten, die sie als Führende brauchen.

Kommentare

  1. Hallo Helge,
    sehr mutig Deine Ansichten und dass Du Dich traust, diese Diskussion öffentlich zu führen, ob Frauen besser führen als Männer.
    Ich mische da mal mit und möchte mal meine Erfahrung zu diesem Thema beitragen:
    • Frauen können sich zwar durch ihre Erfahrungen mit ihrem eigenen Bewegungsspektrum besser ihn die Rolle der Folgenden hineinversetzen, aber sie verstehen dadurch nicht unbedingt besser, welche Führungsimpulse notwendig sind.
    • Es ist ein großer Unterschied, als Tänzer/in im Tango zu agieren oder zu reagieren. Man ist beim Tanzen in beiden Rollen in einem völlig anderen, Gedanken- und Gefühlsmodus. Die Bewegungsreflexe sind völlig unterschiedlich.
    • Fazit: Egal, welche Rolle man/frau einnimmt, die körperliche Erfahrung, auch die mit vielen verschiedenen, folgenden Tanzpartnerinnen, sind Voraussetzung für eine gute Führung. Grundsätzlich kann man also nicht sagen, ob Frauen besser oder schlechter führen. Und warum auch?
    • PS: Ich kenne hier im Ruhrgebiet eine Tangolehrerin in Herne, die hervorragend führt und besser tanzt als viele Männer (und sogar als manche Kollegen) - aber übrigens auch in beiden Rollen sehr gut tanzen kann.
    Liebe Grüße
    Klaus Wendel












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    1. allo Klaus,

      Danke für Deine Antwort!

      Nur zur Klarstellung: Profi-Tänzerinnen habe ich in meinem Beitrag von der Diskussion ausdrücklich ausgenommen. Dass Melina Sedo selber gut führen kann, glaube ich ihr sofort.
      Ich frage mich lediglich, ob es sinnvoll ist, auch Tänzern im Freizeitbereich einen völlig anderen Gedanken- und Gefühlsmodus beizubringen, bei dem Bewegungsreflexe völlig unterschiedlich sind - ohne ihnen diese Unterschiede zu vermitteln.

      Liebe Grüße,
      Helge

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