Eine Frage der Prioritäten

In der Einleitung zu diesem Blog habe ich kurz skizziert, worum es nach meinem Verständnis beim Tango Argentino geht: Tango Argentino ist ein kreativer künstlerischer Prozess, bei dem ein Tanzpaar Musik in Bewegung umsetzt. Dieser Prozess basiert dabei auf drei Säulen:

  1. Meinen eigenen Fähigkeiten (als Führender),
  2. meiner Tanzpartnerin,
  3. der Musik.
Ziel des kreativen Prozesses ist es, passend zur Musik zu tanzen und dabei als Paar zu harmonieren (und nicht, sich als einzelner Tänzer zu profilieren!).

In diesem Beitrag möchte ich diese drei Säulen näher erläutern und dabei insbesondere die Prioritäten zwischen ihnen klarstellen. Ich schreibe diesen Beitrag, weil diese Säulen nach meiner Erfahrung im normalen Tango Unterricht gar nicht explizit erwähnt werden. Und selbst wenn irgendwie intuitiv klar ist, dass diese drei Elemente beim Tanzen eine Rolle spielen, dann ist nach meinen Beobachtungen auf Milongas vielen Führenden die Priorität zwischen diesen drei Elementen nicht klar.

Was ich beobachte, ist, dass (wahrscheinlich unbewusst) häufig diese Priorität gewählt wird:
  1. Am wichtigsten bin ich (als Führender). Ich bin dann ein guter Tango-Tänzer, wenn ich viele Figuren beherrsche und diese technisch gut umsetze. Der bessere Tango-Tänzer ist derjenige, der mehr Figuren beherrscht. Deswegen lerne ich im Unterricht jede Woche eine neue Figur, und hinzu kommen noch Workshops zu den fortgeschrittenen Techniken (Sacadas, Colgadas usw. usf.) Auch hier gilt: Der bessere Tango-Tänzer ist derjenige, der mehr und komplexere Techniken beherrscht. "Beherrschen" bedeutet hierbei vor allem, dass ich meine eigenen Herren-Schrittfolgen beherrsche.
  2. An zweiter Stelle kommt die Musik. Sie gibt den Rahmen vor, innerhalb dessen ich mein Repertoire verwende. Es gibt Figuren, die gut zur Milonga passen (oder zum Valse oder zum Tango), es gibt Figuren für rhythmische Musik und andere Figuren für melodische Musik, für langsame Musik und für schnelle Musik, und natürlich auch Figuren um die Dynamik im Tanz zu erhöhen oder zu verringern.
  3. An letzter Stelle kommt meine Tanzpartnerin. Diese ist mehr oder weniger austauschbar. Auf einer Milonga tanze ich mit fünf (oder zehn oder zwanzig) Frauen. Darunter gibt es welche, die meine Führung verstehen. Das sind die guten Tänzerinnen. Und wenn eine Frau meine Führung nicht versteht, dann ist das ihr Problem, nicht meins. Sie ist dann eben eine schlechte Tänzerin.
    Eigene Interessen oder gar eigene Ideen (wie zum Beispiel nicht geführte Verzierungen) stören nur mein Programm. Wo kommen wir denn hin, wenn eine Figur, die ich auf vier Viertel eingeplant habe, auf einmal fünf Viertel dauert! Das bringt mich doch nur aus dem Konzept.
Das Ergebnis von dieser Priorität ist dann allerdings ein Tanz, der wenig harmonisch ist und der insbesondere den Folgenden wenig Freude bereitet.

Um in einen gemeinsamen kreativen Prozess einzusteigen, sollte die Priorität nach meinem Dafürhalten genau umgekehrt sein:
  1. An erster Stelle steht meine Tanzpartnerin. Meine Aufgabe ist es, mit ihr zum Paar zu verschmelzen und zusammen mit ihr Musik in Bewegung umzusetzen. Ich muss die gesamte Zeit mit 100% meiner Aufmerksamkeit bei ihr sein, also nicht nur wissen, wo ihr Standbein ist und was ihr Spielbein gerade macht, sondern auch ihre Bewegung und ihre Dynamik spüren und mich daran anpassen. Wie kommt sie mit Tempowechseln und Richtungswechseln klar? Wie schnell können Drehungen sein, ohne dass sie ihre Achse verliert? Wenn sie bestimmte Dinge nicht beherrscht oder meine Führung nicht versteht, dann heißt das nicht, dass sie eine schlechte Tänzerin ist, sondern es bedeutet, dass ich meine Führung entsprechend anpassen muss. Wenn ich zum ersten Mal mit einer Frau tanze, werde ich dementsprechend nicht gleich mein gesamtes Repertoire auspacken, sondern vorsichtig mit den Grundlagen anfangen und dann nach und nach Elemente ergänzen.
    Der kreative Prozess des Tanzens wird immer gemeinsam als Paar durchgeführt, niemals von mir alleine! Jeder Schritt entsteht durch Kommunikation zwischen mir und meiner Tanzpartnerin. Die Verbindung zwischen uns beiden muss am Anfang etabliert werden und den ganzen Tanz über erhalten bleiben.
    Die Kommunikation im Paar erfolgt dabei in beide Richtungen. Meine Tanzpartnerin ist am kreativen Prozess mit gleichem Stimmrecht beteiligt wie ich. Sie kann ebenfalls eigene Ideen wie zum Beispiel Verzögerungen oder Verzierungen in den gemeinsamen Tanz einbringen, und ich werde das entsprechend berücksichtigen, also ihr die Zeit und den Raum geben, den sich braucht, um ihre Ideen umzusetzen.
  2. An zweiter Stelle kommt die Musik. Diese gibt wie oben beschrieben den Rahmen vor, innerhalb dessen der kreative Prozess stattfinden kann. Sie strukturiert dabei nicht nur global gesehen mein Repertoire, sondern sie legt auch in jedem konkreten Moment fest, was getanzt werden kann und was nicht.
  3. Und erst ganz am Schluss komme ich als Führender.
    Ganz Ehrlich: Niemand braucht komplexe Figuren, um elegant und harmonisch Tango Argentino zu tanzen. Wenn ich die Grundelemente beherrsche (gehen (vorwärts und seitwärts), Ochos (vorwärts und rückwärts), Links- und Rechtsdrehung) und die Kommunikation im Paar funktioniert, dann kann ich damit locker eine Tanda kreativ gestalten. Alles, was darüber hinausgeht, erlaubt natürlich einen ausgefeilteren kreativen Prozess und ist darum selbstverständlich nützlich. Aber komplexe Figuren und Techniken sind kein Selbstzweck, sondern sie ordnen sich meiner Tanzpartnerin und der Musik unter. Viel wichtiger als die Menge an verfügbaren Figuren ist die funktionierende Kommunikation im Paar.
Diese Art zu tanzen ist ungleich anstrengender als das Abschreiten von Figuren, die ich unabhängig von meiner Tanzpartnerin plane und tanze. Ich brauche jetzt auf einer Milonga deutlich mehr Pausen als früher. Aber das Ergebnis dieser veränderten Prioritäten ist ein deutlich harmonischerer, interessanterer und abwechslungsreicherer Tanz, der sowohl mir als auch meinen Tanzpartnerinnen deutlich mehr Spaß macht.

Kommentare

  1. > Tango Argentino ist ein kreativer künstlerischer Prozess

    Soll dieser Satz die Realität auf Milongas beschreiben oder ist das ein (utopischer) Wunsch? Falls ersteres: Von Kreativität sehe ich zumindest auf "traditionellen" Milongas überhaupt nichts und "künstlerisch" ist - sorry - einfach lachhaft (siehe z.B. diese aufregende Milonga: https://www.youtube.com/watch?v=z6QKeGoYuUg)

    > Sie kann ebenfalls eigene Ideen [...] einbringen

    Das ist mir zu pauschal. Es hängt schon sehr von der Situation ab, ob sie ihre "eigenen Ideen" einbringen kann. Wenn ich z.B. in schnellem Tempo ein paar Ochos hintereinander tanzen möchte, möchte ich NICHT, dass die Frau plötzlich beschließt stehenzubleiben und ein paar Verzierungen einzubauen. Je öfter man zusammen tanzt, desto mehr Situationen entwickeln sich (z.B. beim Ocho cortado, bei der Parada etc.), in denen ich der Frau Zeit für Verzierungen gebe.

    Man kann natürlich auch wie Gerhard Riedl kaum oder gar nicht führen, die Frau einfach irgendwas machen lassen und sich ihr anpassen und das dann als große Tanzkunst verkaufen. Das ist aber NICHT die Art von Paarharmonie, nach der du strebst.

    > [Die Musik] legt auch in jedem konkreten Moment fest, was getanzt werden kann und was nicht.

    Nein, das tut sie ZeusSeiDank nicht - das wäre ja furchtbar. Es geht schon mal damit los, dass es nicht "die Musik" gibt. Du kannst z.B. in einem Stück entweder nach dem Staccato des Bandoneon tanzen oder nach der lyrischen Melodie der Geige(n). Ich empfehle in diesem Zusammenhang https://www.tangodanza.de/Buecher_Joaquin-Amenabar-Tango-Zur-Musik-tanzen--719.html

    Und die Musik legt auch nicht fest, sondern macht lediglich Vorschläge. Das sieht man (auf YouTube) ja schon daran, wie verschiedene (Profi-)Paare dasselbe Stück interpretieren.

    > dann kann ich damit locker eine Tanda kreativ gestalten.

    Wieder stört mich das "kreativ", tut's nicht auch "abwechslungsreich"? Aber klar doch, für eine Tanda reicht das locker. Die Frage ist, ob dir und deiner Partnerin dieses reduzierte Tanzen einen ganzen Abend lang Spaß macht. Der Erfolg von Encuentros zeigt, dass das Ganze wunderbar funktioniert: Wir beschließen, dass wir alle nur noch ein paar simple Figuren/Schrittkombinationen tanzen und reden uns gegenseitig ein, dass wir alle ganz großartig tanzen.

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    1. Mit "kreativ" meine ich, dass es im Tango keine festen Choreographien, keine Schablonen oder sonstigen Vorgaben gibt, nach denen ich tanzen (also: die Musik in Bewegungen umsetzen) muss. Das Ergebnis des kreativen Schaffensprozesses ist dann meine eigene Choreographie, die ich genau zu dieser Musik mit genau dieser Tanzpartnerin entwickelt habe.
      Natürlich gibt es hierbei Unterschiede in der Kreativität. Nicht jeder ist ein van Gogh. Aber Naive Kunst ist auch Kunst.

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  2. Die Behauptung, ich würde nicht führen und die Partnerin einfach machen lassen, wird nicht dadurch wahr, dass man sie gebetsmühlenartig wiederholt. Ich lade Jochen Lüders gerne nach Pörnbach ein, da kann er sich mal davon überzeugen, wie wir tanzen. Aber mit Einladungen hat er es ja nicht so - ihm sind Ausladungen wichtiger.

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    1. > Die Behauptung, ich würde nicht führen [...] gebetsmühlenartig wiederholt.

      Riedl behauptet seit Jahren gebetsmühlenartig, dass Führen und Folgen Quatsch sei. Als Beleg ein paar Zitate aus https://milongafuehrer.blogspot.com/2015/08/warum-ich-wenig-fuhre.html: Am liebsten würde er "die Begriffe „Führen“ und „Folgen“ im Tango [...] verbieten." Führen und Folgen ist für ihn eine "Mär", er selber führt "so wenig wie möglich" und lässt sich lieber von "gigantischen Soloaktionen" seiner Partnerin faszinieren. Wenn er all das nun leugnet, läuft das - freundlich formuliert - unter kognitiver Dissonanz.

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    2. Es scheint für manche unglaublich schwer zu sein, Tanzen als gemeinsamen Dialog auf Augenhöhe zu verstehen – und nicht als Dominanz bzw. Unterwerfung.
      Ich verzichte auf eine Diagnose, um welche Art von Dissonanz es sich dabei handelt.

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  3. Und als "große Tanzkunst" habe ich meine Aktivitäten noch nie verkauft. Ich biete nicht mal Tangounterricht an.

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