Körper und Geist

Wie passt das nur zusammen? Auf der einen Seite sind meine Blogbeiträge und meine Analysen ziemlich kopflastig. Und auf der anderen Seite geht es in diesen Beiträgen um Tango Argentino, also um einen Tanz, in dem es vor allem um die rein körperliche Kommunikation zwischen zwei Tanzpartnern geht. Es geht beim Tango um Gefühle und nicht um Gedanken.

Die Antwort auf diesen scheinbaren Widerspruch gebe ich in diesem Blog Beitrag. Kurzfassung: Ich bin beim Tanzen in verschiedenen Betriebsmodi unterwegs. Und je nach Betriebsmodus leistet das Gehirn manchmal gar keinen und manchmal eben auch einen etwas größeren Beitrag.

Gehen wir diese Betriebsmodi im Einzelnen durch:

Auf der Pista

Hier ist die Situation völlig klar: Tango tanzen funktioniert am besten, wenn man nicht über die Figuren, die Technik usw. nachdenkt. Nur dann kann der Flow entstehen, in dem alles passt, wo ich zusammen mit meiner Tanzpartnerin als Paar in perfekter Harmonie über das Parkett schwebe. Und zwar ohne jede Anstrengung.

In diesem Flow werden alle Figuren, alle Schrittfolgen automatisiert abgerufen. Ich passe meine Tanzhaltung und meine Umarmung automatisch so an, dass meine Tanzpartnerin und ich zu jedem Zeitpunkt eine möglichst angenehme und gute Verbindung haben. Ich spüre, wie sich meine Tanzpartnerin bewegt, und ich begleite ihre Bewegungen ohne darüber nachzudenken. Jedes Nachdenken würde viel zu lange dauern und es würde nur stören und unseren Flow unterbrechen.

Beim Lernen

Leider ist dieser Flow nicht der Ausgangszustand, sondern er ist der Zielzustand einer langen Entwicklung. Davor gibt es einen mehr oder weniger systematischen Lernprozess, den ich erst einmal durchlaufen muss, um zu diesem Ziel zu gelangen.

Anscheinend gibt es Menschen, denen es völlig ausreicht, ein Thema zu üben. Sie spüren intuitiv, was sie tun müssen, damit sich ihr Tanz für beide Tanzpartner gut anfühlt, und sie brauchen nur eine entsprechende Anzahl von Wiederholungen, um zu einer guten Lösung zu kommen.

Zu diesem Personenkreis gehöre ich leider nicht. Ganz im Gegenteil: Ich bin von meiner Denkweise her eher ein Ingenieur und als solcher weiß ich: Nichts ist praktischer als eine gute Theorie. Oder, wie man damals im Informatik-Studium so richtig sagte: "Four weeks of programming can easily save you two hours of research."

Soll heißen: Statt irgendwie herumzuprobieren, was sich gut anfühlt, ist es für mich wesentlich zielführender, ein klares Bild davon zu haben, wohin ich mich weiterentwickeln möchte. Und dieser Lernprozess funktioniert bei mir nicht ohne intensives Nachdenken über das, was ich tue. 

Ein einfaches Beispiel, das ich in der Diskussion zur Improvisation besprochen habe: Man muss sich erst einmal bewusst werden, in wie vielen Dimensionen man beim Tango improvisieren kann, bevor man diese verschiedenen Arten der Improvisation einsetzen kann. Wenn einem Führenden die verschiedenen Arten des Gehens nicht bewusst sind und er auch noch nie über Tempowechsel oder Pausen nachgedacht hat, dann wird er höchstwahrscheinlich auch nichts davon einsetzen und stattdessen zu jeder Musik mit der gleichen Art der Schritte im gleichen Tempo tanzen.

Dieses Bewusstmachen von Optionen und Variationen ist aber nur der erste Schritt des Lernprozesses. Danach kommt das Einüben, solange, bis der Körper die Bewegungen automatisch ausführen kann. Und das dauert. Nicht Stunden oder Tage, sondern Monate und Jahre.

Schließlich kann man die unterschiedlichen Gehweisen "aus dem Rückenmark" tanzen, ohne überhaupt noch darüber nachzudenken. Es reicht dann, die Musik durch den Körper strömen zu lassen, um die passende Bewegung mit dem passenden Tempo zu finden.

Dieses Einüben ist kein linearer Prozess, in dem man automatisch immer besser wird. Ganz im Gegenteil: Am Anfang spürt man wahrscheinlich gar keine Veränderung. Nach einigen Dutzend Stunden Tanzen gibt es sogar eher einen gewissen Frust, weil viel häufiger auffällt, was nicht funktioniert, als das man erlebt, dass etwas gut funktioniert. Trotzdem ist es ein wichtiger erster Schritt zu spüren, wo man eigentlich hin will - auch wenn man es jetzt noch nicht schafft. Es ist dann durchaus eine Herausforderung, diese Frustphasen zu überstehen in der Hoffnung, dass es doch irgendwann so klappt, wie man es sich vorgestellt hat.

Der Zielzustand dieser Entwicklung ist, dass man über diesen Punkt, den man einüben möchte, nicht mehr nachzudenken braucht, weil man die Bewegung und ihre Dynamik direkt im Körper spürt und unmittelbar in Führungsimpulse umsetzen kann. 

Bei der Fehleranalyse

Dummerweise kommt es im Laufe des Lernprozesses immer wieder zu Fehlern. Meine Tanzpartnerin versteht meinen Führungsimpuls entweder gar nicht oder anders als ich es erwartet habe. Die Figur, die wir eigentlich tanzen wollen, fühlt sich nicht stabil an sondern sehr wackelig. Usw. usf. Das kann sowohl im Unterricht als auch während einer Practica als auch während einer Milonga passieren.

Wenn ich über unseren Tanz als Paar systematisch nachdenke, dann ergibt sich hieraus im Lauf der Zeit eine immer längere Checkliste, die mir Hinweise gibt, warum etwas schief gegangen ist. Einige Punkte aus dieser Checkliste habe ich in dieser Kurznotiz vorgestellt. Wenn sich mein Tanz nicht gut anfühlt, dann kann ich mental auf die Metaebene wechseln und diese Checkliste durchgehen. Damit habe ich gute (und im Laufe der Zeit immer bessere) Chancen, den Fehler zu finden und zu korrigieren.

Auf einer Practica hat man naturgemäß deutlich mehr Zeit für die Fehleranalyse als im laufenden Fluss einer Milonga. Aber auch dort hat man ja ab und zu eine Pause zum Nachdenken.

Zusammenfassung

Nein, ich tanze nicht kopflastig und ich rate auch jedem, es nicht zu tun. Trotzdem brauche ich für meine Weiterentwicklung eine Theorie des Bewegungsablaufs und des Timings und eine klare Vorstellung der Varianten und Optionen, die ich beim Tanzen habe. Durch diese Theorien komme ich beim Lernen wesentlich schneller voran. Und sie erlauben es mir, einerseits systematisch Fehler zu beheben, und andererseits, mit möglichst vielen Tanzpartnerinnen, Tanzhaltungen und Musikstilrichtungen zurechtzukommen, die mir auf der Pista begegnen.

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