Die Kunst der Improvisation

Einleitung

Tango gilt als ein Tanz, in dem es (im Gegensatz zu den meisten anderen Tänzen) weniger auf konkrete Figuren ankommt als vielmehr darauf, dass beim Tanzen improvisiert wird. Die Kunst der Improvisation ist damit eine der wichtigsten Fähigkeiten, über die ein guter Tangotänzer verfügen sollte.

Trotzdem wird häufig beklagt, dass nur sehr wenige Tangotänzer über diese Fähigkeit verfügen. Siehe zum Beispiel die Blog Beiträge von Gerhard Riedl

"Bevorzugt wird das langweilige Mittelmaß, welches brav das halbe Dutzend der üblichen Schrittkombinationen mithampelt. Das ist recht gemütlich und risikoarm."

oder von Jochen Lüders 

"Zwar ist es ein alter Mythos und gutes Marketingargument, dass Tango „kreativ“ sei und man(n) ständig „improvisieren“ würde, aber ein Blick auf eine beliebige Tanzfläche zeigt schnell, wie absurd diese Behauptung ist. Das Schritt- bzw. Figurenrepertoire der allermeisten Paare lässt sich an zwei Händen abzählen, je konservativer getanzt wird, desto reduzierter und vorhersehbarer wird getanzt."

In einem aktuellen Interview gibt Manuela Bößel zu Protokoll:

"Nach deiner Erfahrung – welcher Anteil der Tangotänzerinnen und Tänzer improvisiert?

Zwei bis drei Prozent – hoch gegriffen!"

Wenn diese Fähigkeit aber trotzdem besonders wichtig ist, dann stellt sich für mich die Frage, wie man sie erlernen kann. Jochen beantwortet die Frage in seinem Blog Beitrag damit, dass er seine Schüler verschiedene Varianten einer Figur aneinanderreihen lässt. "Im Lauf der Zeit entsteht auf diese Art ein dichtes „Netz“ an verschieden Bewegungs-„Modulen“ (in Form von 8er, 16er oder 32er Sequenzen), die miteinander kombiniert werden können." 

Ganz ehrlich: Das ist nicht so wirklich das, was ich unter Improvisation verstehe. Improvisation findet für mich statt bei jedem einzelnen Taktschlag und bei jedem einzelnen Schritt. Wie das genau funktioniert erkläre ich weiter unten.

Gerhard wiederum hat meine Frage in einem eigenen Blog Artikel beantwortet. Seine Antwort "Man muss dem heutigen Mainstream so weit wie möglich aus dem Weg gehen!" finde ich allerdings auch nicht so wirklich befriedigend.

Und Manuela stellt im Interview schlicht und ergreifend fest: "Wie kann man den Leuten beibringen, zu improvisieren? Gar ned."

Wenn sich eine so erfahrene Tango Tänzerin wie Manuela so vollkommen sicher ist, dann ist das für Menschen wie mich, die gerne lernen würden, wie man improvisiert, eine ganz schlechte Nachricht. Vielleicht sollte ich doch besser mit dem Tango Argentino aufhören.

Motivation

Nein, Spaß beiseite: Diese Ansichten teile ich überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil: Ich sehe viele Punkte, die man gezielt und systematisch üben kann, um die eigenen Fähigkeiten zur Improvisation zu verbessern. Wie üblich erhebe ich hierbei keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Kommentare und Ergänzungen sind wie immer sehr willkommen!

Der Titel dieses Beitrags "Die Kunst der Improvisation" ist bewusst gewählt: Kunst ist Handwerk plus Kreativität.

Zur Kreativität kann ich dabei wenig sagen. Ich selber versuche beim Tanzen loszulassen, möglichst wenig nachzudenken und ich lasse das, was die Musik mit meinem Körper anstellt, einfach geschehen. Ich weiß allerdings nicht, ob das bei Anderen genauso funktioniert, und ich habe keinen blassen Schimmer, wie man diese Geisteshaltung anderen Menschen erklären oder gar ihnen beibringen könnte. Deswegen belasse ich es bei dieser Bemerkung.

Zum handwerklichen Teil dagegen gibt es aus meiner Sicht durchaus einige notwendige Voraussetzungen dafür, dass ein improvisierter Tanz gelingen kann. Diese Fertigkeiten werde ich in den folgenden Abschnitten genauer beschreiben. Dabei ergeben sich gewisse Überschneidungen mit meinem Beitrag Technik zum Wohlfuhlen. Deswegen mögen an den entsprechenden Stellen die Stichworte genügen.

Methoden der Improvisation

Bevor ich auf die notwendigen handwerklichen Fähigkeiten eingehe, muss ich zunächst einmal erklären, was die Unterschiede sind zwischen "normalem" Tanzen und improvisiertem Tanzen. Ich sehe da zumindest die folgenden Variationsmöglichkeiten:

  • Die Art, wie man geht.
    Im Tango kann ich meine Schritte auf mindestens einem Dutzend verschiedener Arten setzen, vom stolpernden Traspie bis zum gleitenden Valse, vom Stakkato einer Milonga bis zum unendlich langsamen Fließen.
  • Tempowechsel
    Ich kann jeden Schritt im normalen Tempo setzen (1 Schritt pro Taktschlag), aber genauso gut kann ich einen Schritt im halben (oder Viertel) oder im doppelten Tempo setzen.
  • Pausen
    An jeder stabilen Position kann ich auch eine Pause einlegen und die nächste Bewegung erst wieder bei passender Gelegenheit einsetzen.
  • Abbruch einer Figur
    Im Tango kann ich jeden Schritt, den ich vorwärts gegangen bin, auch wieder rückwärts setzen.
  • Dekonstruktion von Figuren
    Statt eine Figur bis zum Ende durchzutanzen, kann ich sie an jeder beliebigen Stelle unterbrechen und auf eine andere Weise fortsetzen. Figuren sind im normalen Tanz abgeschlossene Schrittfolgen. In der Improvisation dagegen können beliebige Fragmente aus ihnen verwendet werden.
  • Aufbau neuer Schrittkombinationen
    Man kann jederzeit neue Schrittfolgen erproben, solange sie die Stabilität des Paares nicht in Gefahr bringen.
  • usw.

Alle diese Variationsmöglichkeiten kann man lernen, indem man versucht, sie bewusst einzusetzen. Sie haben unterschiedliche Schwierigkeitsgrade: Unterschiedlich zu gehen kann man üben, sobald man eine gegangene Figur beherrscht. Die Dekonstruktion von Figuren ist dagegen eher nichts für Lernende, die noch damit kämpfen, zumindest eine allererste Variante einer Figur elegant zu tanzen.

Die unterschiedlichen Variationsmöglichkeiten lassen sich auch im Unterricht behandeln, sodass die Tänzer zumindest einen Einstieg in das Thema kennenlernen und eine Vorstellung davon bekommen, was tanztechnisch möglich ist. Das konkrete Ausprobieren und Einüben dagegen erfordert sehr viel Zeit und sehr viel Übung und kann daher nur auf vielen, vielen Practica und Milongas erfolgen.

Dabei ist es sehr wichtig, dass diese Themen im Unterricht behandelt werden. Wenn einem nicht bewusst ist, dass man Schritte auf verschiedene Arten setzen kann, dann kann man diese Varianten auch nicht beim improvisierten Tanzen einsetzen. Wenn man nie gelernt hat, Tempowechsel zu führen, dann wird man niemals musikalisch tanzen. Wenn man nie gelernt hat, eine Figur zu dekonstruieren, dann wird man diese höchstwahrscheinlich immer wieder genau so tanzen, wie sie unterrichtet wurde.

Meine starke Vermutung ist, dass deswegen so wenig improvisiert wird, weil den Tänzern nie bewusst beigebracht wurde, wie viele Varianten sie von dem tanzen können, was sie alles schon wissen. Stattdessen werden immer wieder neue Figuren unterrichtet statt erst einmal die bereits bekannten Figuren systematisch in unterschiedlichen Varianten zu erproben.

In den folgenden Abschnitten diskutiere ich die Voraussetzungen an die Tänzer, damit sie in dieser Weise improvisieren können.

Voraussetzungen im Paar

Die wichtigste Voraussetzung für eine Improvisation ist offensichtlich: Die Kommunikation im Paar muss funktionieren. Und zwar das gesamte Lied hindurch bei jedem einzelnen Schritt. Das erfordert eine stabile Verbindung von Anfang an, die über den gesamten Tanz aufrecht erhalten werden muss.

Das ist keine leichte Aufgabe, sondern es erfordert für beide Tänzer eine durchgehende hohe Konzentration ohne jede Pause.

Voraussetzungen auf Seiten der Folgenden

Damit die Improvisation im Paar möglich ist, brauche ich als Führender drei Punkte von der Folgenden:

  1. Sie darf ihre Figuren nicht nach einem festen Schema tanzen.
    Ich habe zum Beispiel schon häufiger mit Folgenden getanzt, die das Kreuz grundsätzlich in doppelter Geschwindigkeit tanzen. Das macht es dann für mich unmöglich, innerhalb eines Kreuzes zu improvisieren und dessen Geschwindigkeit zu verändern.
  2. Sie darf keine Erwartungen haben an die Schritte die kommen werden.
    Ich habe zum Beispiel schon häufiger mit Folgenden getanzt, die nur einen einzigen Ausgang aus dem Sandwich beherrschen und diesen dann auch tanzen, völlig unabhängig davon, welche Schritte ich tatsächlich als Ausgang führe.
  3. Sie muss mir klar kommunizieren, wo sie steht und was sie macht.
    Wenn ich nicht weiß, wie mein Führungsimpuls interpretiert wurde, dann kann ich nicht von einer gewohnten Schrittfolge abweichen - zumindest nicht ohne die Gefahr eines Sturzes in Kauf zu nehmen.
    Diese Kommunikation der Folgenden an den Führenden erfolgt im Wesentlichen über die Körperspannung ihrer Rückenmuskulatur und sollte möglichst klar sein. Das ist unter anderem der tiefere Sinn der Projektion beim Gehschritt.

Zusammengefasst: Bei der Improvisation wird jeder einzelne Schritt geführt und die Folgende muss auf jeden einzelnen Führungsimpuls reagieren, und zwar so, dass der Führende die Reaktion deutlich mitbekommt. Sonst funktioniert die Improvisation nicht.

Der Vorteil für die Folgende ist dabei, dass sie sich keinerlei Gedanken über irgendwelche Figuren zu machen braucht. In der Improvisation werden Figuren dekonstruiert, also sowieso nicht so getanzt, wie sie dereinst im Unterricht vermittelt wurden. Sie kann also viel entspannter tanzen und braucht sich nicht damit zu beschäftigen, welche Figur gerade gemeint sein könnte.

Voraussetzungen auf Seiten des Führenden

Die wichtigste Voraussetzung für eine Improvisation ist die Fähigkeit zur spontanen Reaktion. Als Führender fließen viele Parameter in den nächsten Schritt ein, und dabei ist die Dynamik meiner Tanzpartnerin einer der wichtigsten. Wenn sie gerade Schwung holt für eine schöne Drehung (und die Musik das zulässt), dann sollte ich lieber diese Drehung tanzen und nicht einen geraden Schritt (auch wenn die Figur das so vorsieht). Bei der Improvisation sollte der Führende nicht mehrere Schritte weit in die Zukunft planen, sondern aus der aktuellen Dynamik heraus reagieren.

Dieser Punkt lässt sich relativ leicht üben durch Übungen zur Fehlertoleranz: In einer Übungssituation (Unterricht, Practica, auf gar keinen Fall auf einer Milonga) kann man die Folgende anhalten "Fehler" in ihre Reaktion auf einen Führungsimpuls einzubauen. Also zu schnell zu tanzen, den falschen Fuß zu setzen, eine Verzierung zu tanzen, die nicht in die Schrittfolge passt o.ä. Hierdurch lernt der Führende, genau zuzuhören und spontan auf die aktuelle Situation zu reagieren.

Zweitens sind glasklare Führungsimpulse für jedes einzelne Detail sehr wichtig. Die größte Schwierigkeit besteht dabei darin, die Führungsimpulse punktgenau einzusetzen mit der Möglichkeit, Bewegungen jederzeit zu unterbrechen, zu verlangsamen oder zu beschleunigen. 

Wenn man in kompletten Figuren denkt, dann kommt es auf die Präzision nicht so genau an. Es reicht, den Beginn der Figur korrekt einzuleiten, und dann tanzt die Folgende den Rest schon richtig. Wenn aber bei einer Improvisation jeder einzelne Schritt geführt wird und bei jedem Schritt von einer bekannten Figur abgewichen werden kann, dann müssen die Unterschiede in der Führung zwischen allen möglichen denkbaren Fortsetzungen sehr deutlich sein und sehr klar kommuniziert werden.

Nehmen wir zum Beispiel das Kreuz. Der nächste Schritt nach dem Kreuz kann ein Rückwärtsschritt der Folgenden sein oder ein Seitwärtsschritt oder ein Vorwärtsocho oder vielleicht wird der linke Fuß der Folgenden auch gar nicht abgesetzt, sondern das Kreuz wird abgebrochen und übergeleitet in eine Drehung auf dem rechten Fuß der Folgenden. In der Improvisation reicht es nicht aus, das Kreuz zu führen und sich dann darauf zu verlassen, dass die Folgende ihren linken Fuß absetzen und den rechten Fuß aus dem Kreuz lösen und in die richtige Richtung lenken wird. Jedes Detail (Absetzen des linken Fußes (so gewünscht), Lösen des rechten Fußes und der nächste Schritt) muss explizit und präzise geführt werden.

Bei so hohen Anforderungen an die Präzision in jedem einzelnen Detail besteht natürlich immer die Gefahr, dass durch die Führungsimpulse nicht genau das erreicht wird, was eigentlich erreicht werden sollte. Bei der Improvisation ist es also noch wichtiger als im normalen Tanz, dass ich als Führender sicherstelle, dass unser Tanz weiterhin fließend verläuft, auch wenn meine Führungsimpulse nicht so interpretiert werden, wie ich es erwartet habe.

Das Gleiche gilt für die Themen Stabilität, Sicherheit und Vertrauen, die ich schon in diesem Beitrag besprochen habe. Alle drei sind unabdingbare Voraussetzungen für eine gelungene Improvisation.

Zu den notwendigen Fertigkeiten eines Führenden gehört natürlich auch, dass er die Methoden der Improvisation beherrscht, die ich oben beschrieben habe. Er muss die verschiedenen Gehtechniken beherrschen und er muss wissen, wie er eine Beschleunigung oder eine Verlangsamung führen muss, usw. Das ist eine Menge Holz, zusätzlich zu dem, was man für den "normalen" Tango benötigt, und das wird mich wohl noch eine ganze Weile lang beschäftigen.

Zusammenfassung

Ich weiß nicht, wie man Menschen die Kreativität und die Experimentierfreude beibringen kann, die für Improvisation benötigt werden. Aber ich bin mir sehr sicher, dass man die Fertigkeiten, die ich in diesem Beitrag beschrieben habe, dediziert erlernen und einüben kann. Und ich bin mir ebenfalls sehr sicher, dass die meisten Tänzer gerne mehr improvisieren würden, wenn ihnen nur endlich mal jemand erklären würde, wie das geht. Ich finde es daher sehr schade, dass diesen Themen im Tango Unterricht (zumindest in dem Unterricht, an dem ich bisher teilgenommen habe) so wenig Zeit gewidmet wird.

Kommentare

  1. > Bei der Improvisation [...] Führungsimpuls reagieren

    Eine erfreulich klare Aussage, mit der ich 100% übereinstimme. Das ist aber das genaue Gegenteil, was heute als "Improvisation" propagiert wird. Da wird der Tanz zum "Dialog", bei dem beide Partner den Tanz "gleichberechtigt" gestalten, die Frau tanzt "selbständig" etc.
    Siehe dazu: https://jochenlueders.de/?p=15907

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