Technik zum Wohlfühlen

In den letzten Tagen habe ich aus zwei unterschiedlichen Quellen Impulse bekommen, die mich zum Nachdenken gebracht haben. Das Ergebnis dieses Nachdenkens möchte ich Euch in diesem Blog Beitrag präsentieren.

Der erste Impuls stammt aus dem Buch Tangofulness von Dimitris Bronowski. Dimitris sagt, dass Dinge oder Tätigkeiten wichtiger werden, wenn sie für uns eine Bedeutung haben. So stellt er zum Beispiel auf Seite 28 fest, welche Bedeutung der Tango für ihn hat: 

An diesem Abend habe ich die Bedeutung meiner Umarmung gefunden: Eine heilende Umarmung. Dank dieser einfachen Bedeutung konzentrierte ich mich darauf, eine Umarmung zu entwickeln, die sowohl die Kraft hat, die Person vor mir als auch mich selbst zu heilen.

Ganz ehrlich: Der Anspruch ist mir ein paar Nummern zu groß, und er passt zumindest in meiner Umgebung nicht so wirklich: Die Frauen, die mit mir Tango tanzen, wollen normalerweise nicht von mir geheilt werden. Und wenn sie Heilung brauchen, dann sollte diese Heilung wohl besser vom Darmstädter Tango Urgestein Hans Gunia kommen als von mir.

Andererseits macht es durchaus Sinn darüber nachzudenken, was der Tango für mich bedeutet. Dabei bin ich für mich zu folgendem Ergebnis gekommen:

Meine Tanzpartnerin soll sich wohl fühlen, wenn sie mit mir tanzt. 

Das klingt recht banal, aber es hat doch einige Konsequenzen, die ich in diesem Blog Beitrag genauer erklären möchte.

Zunächst einmal: Was heißt es, sich beim Tango wohlzufühlen? Das hat die begnadete Tango Poetin Manuela Bößel in diesem Blog Beitrag besser beschrieben als ich es jemals könnte:

Mit himmelblauen Valses dich trotzig lachend wieder ins Gleichgewicht tanzen, zu weinenden Geigen und  Dickermännergesang mit viel Schmalz gemeinsam improvisieren, in piazzollische Paralleluniversen entschweben, prickelnde Lebenslust in alle Körperzellen hineintanken, Bewegungen, die sich so zart anfühlen wie der Hauch von erstem Schnee, das Blitzen der Seele im Auge deines Gegenübers...

Der Tango lebt im Augenblick, wenn du bereit ist, dich auf ihn einzulassen. Und schon schmeckt der Tango nach Bitterschokolade mit Schlagobers (oder Leberwurstbrot).

Solche Stimmungen kann man nicht bewusst herbeiführen oder gar erzwingen. Aber ich denke, dass man durchaus einige operative Voraussetzungen dafür schaffen kann, damit solche Situationen überhaupt erst möglich werden. Mir sind dazu vier Punkte aufgefallen, die ich euch im Folgenden vorstellen möchte. Wahrscheinlich gibt es noch viele mehr. Wie immer freue ich mich über eure Kommentare und Ergänzungen.

Glasklare und fehlertolerante Führung

Am wichtigsten ist es, dass die Folgende nicht anfängt nachzudenken. Nachdenken zerstört jedes Gefühl und jede Emotion. Eine Folgende soll fühlen und nicht denken, oder, wie Manuela Bößel es in diesem Blog Beitrag beschreibt:

Leider kann das Großhirn nicht tanzen – selbst wenn es wollte! Es kann denkend analysieren, bewerten, strategisch denken, abstrahieren und was weiß ich noch alles. Es kommuniziert und funktioniert via Sprache, die ja auch schon eine Abstraktion der Welt darstellt. Tanzen hingegen ist nicht sein Ressort.

Beim Tanzen geht es um Gefühle, nicht um Gedanken. Es ist darum tödlich für den gemeinsamen Tanz, wenn sich die Folgende nicht auf ihre Gefühle verlässt sondern anfängt, sich Gedanken darüber zu machen, welche Figur gerade geführt wird. 

Das heißt für mich als Führenden zweierlei: 

  1. Meine Führung muss glasklar sein. 
  2. Selbst wenn meine Führungsimpulse nicht so interpretiert werden wie ich es erwartet habe, dann muss ich trotzdem sicherstellen, dass unser Tanz weiterhin fließend verläuft.

Stabilität, Sicherheit und Vertrauen

Ähnliches gilt für die Stabilität der Bewegungen. Tango gilt als ein "geerdeter" Tanz, bei dem "die Energie aus dem Boden kommt". Als Führender sollte ich niemals "luftig" unterwegs sein. Die Folgende muss sich darauf verlassen können, dass sie bei meiner Führung niemals ins Stolpern kommen wird oder dass sie ihre Achse verlieren könnte.

Erst dann, wenn sie sicher ist, dass ihre Stabilität bei jedem Schritt gewährleistet ist, kann sie den Tanz mit mir genießen. Eine wesentliche Führungsaufgabe besteht also darin, Vertrauen in unsere Stabilität aufzubauen. 

Flexible Umarmung

Üblicherweise wird der Abstand zwischen den Tanzpartnern von der Folgenden festgelegt. Sie weiß, in welchem Abstand sie sich wohlfühlt, und ich habe mich daran anzupassen. Nach meinen Erfahrungen ist die knallenge Milonguero Tanzhaltung keineswegs die einzig zulässige Variante. Ganz im Gegenteil: Sie schränkt die Menge der tanzbaren Figuren drastisch ein und wird deswegen von den allerwenigsten Folgenden gewählt.

Für mich als Führenden heißt das, dass ich mit allen Tanzhaltungen zurechtkommen muss, von knalleng bis sehr offen. Die Konsequenz ist, dass meine Führungsimpulse in allen Tanzhaltungen funktionieren müssen. 

Zweitens hat der Abstand im Paar auch Auswirkungen auf die tanzbaren Figuren: Einer Folgenden, die die Milonguero Tanzhaltung bevorzugt, werde ich keine Colgada anbieten. Umgekehrt würde ich einer Folgenden, die auf Abstand bedacht ist, nicht zu einer Volcada einladen.

Und das wiederum bedeutet, dass ich für kein Lied eine feste Choreographie verwenden kann. Selbst wenn ich den traditionellen EdO Klassiker schon hundert Mal getanzt habe: Mit dieser Folgenden in diesem Augenblick wird meine Choreographie zwangsläufig eine andere sein als bei den anderen hundert Malen.

Führungswille mit Bereitschaft zum Dialog

Zwei prominente Tango Blogger Kollegen haben sich viele Gedanken gemacht über unterschiedliche Führungsstile und die Kommunikation im Paar, die sich aus dem jeweiligen Führungsstil ergibt. Gerhard Riedl plädiert dafür, möglichst wenig zu führen und stattdessen der Folgenden möglichst viel Freiraum zu geben, während Jochen Lüders die "Eigeninitiative der Frau nur in homöopathischer Dosierung" verträgt. Das kann Gerhard natürlich so nicht stehen lassen und formuliert diese Antwort.

Ich denke, dass beide jeweils nur einen eingeschränkten Ausschnitt der Realität beschreiben. Nach meinen Erfahrungen gibt es beides: Es gibt Folgende, die ihre Rolle eher passiv interpretieren und sich freuen, wenn der Führende jeden Schritt klar und eindeutig führt, sodass sie sich seiner Führung hingeben können, ohne auch nur eine Sekunde lang nachdenken zu müssen. Diese Folgenden würden mit Jochen bestens klarkommen.

Andererseits gibt es Folgende, die ihre Rolle sehr aktiv interpretieren, also eigene Ideen in den Tanz einbringen, sei es ihre eigene Energie, ihre eigenen Verzögerungen, nicht geführte Verzierungen usw. Sie brauchen in ihrem Tanz einen permanenten Dialog im Paar auf Augenhöhe. Diese Folgenden würden wohl lieber mit Gerhard tanzen.

Jochen und Gerhard beschreiben in meiner Wahrnehmung aber nur die beiden äußeren Enden des Spektrums. In der Realität gibt es sowohl diese beiden Enden als auch alle Abstufungen dazwischen. Deswegen macht es aus meiner Sicht keinen Sinn, den einen oder den anderen Führungsstil zu bevorzugen. Als Führender muss ich beide Stile beherrschen und je nach Vorliebe meiner Tanzpartnerin flexibel zwischen ihnen wechseln können, damit sich meine Tanzpartnerin wohlfühlt, wenn sie mit mir tanzt.

Anmerkungen

In meinem Blog Beitrag Anfänger? Oder Fortgeschrittener? Oder beides? habe ich verschiedene Fähigkeiten eines Tangotänzers diskutiert, die auf meiner Drei-Säulen-Theorie des Tango basieren. Interessanterweise kommt in dem Beitrag keiner der vier Punkte explizit vor, die ich im heutigen Blog Beitrag vorstelle. Offenbar muss ich das Thema "Kommunikation im Paar" noch einmal vertiefter angehen.

Die ersten Rückmeldungen zu diesem Beitrag sagen, dass die Themen

  • Musikalität
  • Fähigkeit zur Improvisation

beim Wohlfühlen ebenfalls noch berücksichtigt werden sollten.

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