Wieviel muss ich vom Tango verstehen um guten Tango zu tanzen?
Ich bin ja relativ neu in der Welt des Tangos und stehe gerade vor einer Frage, die ich selber nicht beantworten kann. Deswegen hoffe ich, dass ihr erfahrenen Tango Tänzer dort draußen mir ein paar Hinweise geben könnt.
Es geht um die Frage: Was macht meinen Tango Tanz wirklich besser? Also nicht besser im Sinne der Technik, sondern besser im Sinne von "musikalischer", "erfüllender", "passender", sodass er meinen Tanzpartnerinnen und mir mehr Freude macht. Es gibt sehr viele Themengebiete, die ich mir näher ansehen könnte, aber ich weiß nicht, welche Themen ich vertieft studieren sollte, um ein besserer Tango Tänzer zu werden.
Die folgende Liste ist wahrscheinlich unvollständig, aber das sind zumindest einige der Themen, die mir bisher als Kandidaten aufgefallen sind. Wenn ihr weitere interessante Themengebiete kennt, dann lasst es mich bitte wissen.
Die Orchester
Ja, ich kann inzwischen einen Biagi von einem di Sarli unterscheiden, und wenn Pugliese aufgelegt wird, dann kriege ich das auch mit. Aber damit erschöpfen sich meine Kenntnisse der Orchester auch schon. Echte traditionelle DJs dagegen, zeigen nicht nur, welches Orchester gerade gespielt wird, sondern sie gestalten die Tandas sogar möglichst so, dass alle Stücke der Tanda aus demselben Jahr stammen, denn die Orchester haben sich natürlich im Lauf der Zeit auch weiterentwickelt und ihren Stil verändert.
Lohnt es sich, hierüber mehr zu lernen? Bisher habe ich einen naiven Ansatz und tanze so, wie es mir die Musik vorschlägt, sei es rhythmisch oder melodisch, sei es einfach oder komplex. Bei diesem Ansatz ist es ziemlich egal, welches Orchester spielt und ob dieses Orchester seinen Charakter über die Zeit beibehalten oder verändert hat. Ja, als DJ sollte man diese Dinge wissen. Aber was bringt es mir als Tänzer?
Die verschiedenen Versionen eines Stückes
Beliebte Stücke werden im Tango von sehr vielen unterschiedlichen Orchestern interpretiert. Ein traditioneller DJ sagte mir einmal, dass er von den meisten Stücken mindestens 20 (!) verschiedene Versionen kennt, und er konnte mir sogar aus dem Kopf die Unterschiede zwischen diesen Interpretationen erklären. Das finde ich sehr beeindruckend und es ist auch durchaus glaubhaft, siehe zum Beispiel Gallo Ciego von Pugliese:
Ja, diese Interpretationen unterscheiden sich. Außerdem gibt es von etlichen Stücken auch Cover Versionen, welche die Charakteristik der Musik verändern, wie zum Beispiel die Interpretationen traditioneller Tangos durch Hugo Diaz oder durch Cachivache.
Mein Ansatz ist bisher, dass jedes Stück für sich selbst steht. Damit ist es egal, ob es auch noch andere Versionen des Stückes gibt und welche der vielen verfügbaren Versionen das Original ist.
Natürlich wird ein DJ immer die (seiner Meinung nach) beste Version auflegen. Aber wieviel sollte ich als Tänzer über die anderen Versionen wissen, um auf die aktuell aufgelegte Version passend tanzen zu können?
Die Titel und die Texte der Lieder
Ich habe schon von verschiedenen Seiten gehört, dass der Titel und der Text eines Tangos wichtig sind für die tänzerische Interpretation eines Liedes. Wenn man nicht weiß, worum es in dem Lied geht, dann kann man die Emotionen tänzerisch nicht richtig interpretieren.
Hier ist mein bisheriger Ansatz, dass die Emotionen von der Musik transportiert werden müssen. Wenn der Text traurig ist, aber die Musik fröhlich herumspringt, dann werde ich der fröhlichen Musik folgen.
Damit kann ich natürlich auch daneben liegen. Ich kann kein Spanisch, deswegen sei dieses Beispiel mit englischem Text genannt: Im Last Tango on 16th Street heißt es etwa "Why this life in poverty seems so much like a war" oder "Dodge between the hookers, aim between their thighs". Der Text ist also sehr viel gruseliger als die Musik, die ganz ruhig dahinplätschert.
Dieser Punkt scheint mir bisher noch der interessanteste Kandidat für eine vertiefte Betrachtung zu sein. Andererseits frage ich mich, bei wie vielen Liedern der Text tatsächlich anders ist als die Musik. Wenn der Komponist einen guten Job gemacht hat, dann sollte die Musik genau dieselben Emotionen hervorrufen wie der Text.
Die Geschichte des Tangos
Ein weiteres Thema ist die Geschichte des Tangos. Aus welchen tänzerischen Quellen speist sich der Tango? Wie wurde der Tango früher getanzt, als es noch keine Tanzschulen gab und die Maestros ihr Können noch nicht auf YouTube präsentieren konnten? Warum galt der Tango im Kaiserreich als unanständig? Welche Figuren und Tanzstile sind seitdem dazu gekommen?
Man kann hier offensichtlich sehr tief einsteigen, aber ich bin unsicher, was mir diese historischen Betrachtungen für meinen heutigen Tanz wirklich bringen.
Die Geschichte Argentiniens
Ähnliches gilt für die Geschichte Argentiniens. Für dieses Thema wurde ich sensibilisiert durch den Roman Drei Minuten mit der Wirklichkeit von Wolfram Fleischhauer. In diesem Buch wird unter anderem gezeigt, dass sich die Gedichte von Haracio Ferrer, die Astor Piazzolla musikalisch umgesetzt hat, nur im Kontext der damals herrschenden Militärdiktatur verstehen lassen.
In dem Film Adios Buenos Aires wird ebenfalls der soziale Hintergrund des Tangos thematisiert. Ohne diesen Hintergrund lassen sich wahrscheinlich viele Lieder und Gedichte nicht verstehen, die in Form von Tangos vertont wurden.
Auch hier kann man zusammen mit den Texten sicher sehr tief in die Interpretation der Lieder einsteigen. Aber auch hier bin ich unsicher, was mir diese historischen Betrachtungen für meinen heutigen Tanz wirklich bringen.
Die Psychologie des Tangos
Das ist ein weites Feld. Dimitris Bronowski sucht zum Beispiel in Tangofulness nach tieferen Bedeutungen im Tango und schwört darauf, dass ein erfüllterer Tanz entsteht, wenn man die psychische Befindlichkeit seiner Tanzpartnerin kennt und beim Tanzen berücksichtigt. Hans Gunia beschreibt in seinem Buch Tango in der Psychotherapie aus klinischer Sicht die Wirkungen des Tango auf die psychische Gesundheit.
Das klingt alles plausibel, aber ich fände es etwas übergriffig, wenn meine Tanzpartnerinnen mir erst einmal ihre Befindlichkeiten darlegen müssten, bevor ich anfange mit ihnen zu tanzen. Genauso umgekehrt: Ich will in erster Linie tanzen und nicht anderen Menschen psychologische Hilfestellung leisten. Selbstverständlich genießt meine Tanzpartnerin während einer Tanda meine ungeteilte Aufmerksamkeit, und natürlich soll sich meine Tanzpartnerin wohlfühlen, wenn sie mit mir tanzt. Aber muss unser Tanz deswegen auch eine tiefere psychologische Bedeutung haben?
Zusammenfassung
Offensichtlich kann man unendlich viel Zeit damit verbringen, die Hintergründe des Tangos zu erforschen. Da meine Zeit begrenzt ist, würde ich hier gerne ein paar Tipps bekommen, welche der Themen für das Tango Tanzen wirklich relevant sind. Mit welchen Themen habt ihr euch genauer beschäftigt? Und wie haben sich die Erkenntnisse, die ihr gewonnen habt, auf euren Tanz ausgewirkt?
> Wenn man nicht weiß [...] nicht richtig interpretieren.
AntwortenLöschenSehe ich ganz anders. Die meisten Tango-Texte sind m.E. extrem stereotyp und transportieren ein fürchterliches Frauenbild. Es reicht völlig, wenn du einen grobe Vorstellung hast, worum es meistens geht. Siehe dazu: https://jochenlueders.de/?p=15972
Danke für den Hinweis! Die Beispiele sind interessant.
Löschen> Welche Figuren und Tanzstile sind seitdem dazu gekommen?
AntwortenLöschenDas hängt vor allem davon ab, was wie du bisher gelernt hast bzw. wie du bisher tanzt. Ausschließlich in enger Tanzhaltung mit kleinen Trippelschrittchen? Dann könnte der offen getanzte "Tango Nuevo" (nicht zu verwechseln mit der Musikrichtung von Piazzolla & Co) deinen Tanz komplett verändern. Siehe z.B. https://www.youtube.com/watch?v=x63lHrT2lC8
Es geht nicht darum, was ich tanze, sondern wie sich der Tango im Laufe der Zeit entwickelt hat. Ich hatte mal einen Tango Lehrer, der immer wieder betont hat, wann bestimmte Figuren aufgekommen sind bzw. welche Figuren in den 30er Jahren noch als unschicklich galten.
LöschenDieses Wissen finde ich völlig irrelevant für mein eigenes Tanzen.
Löschen> Aber wieviel sollte ich als Tänzer über die anderen Versionen wissen
AntwortenLöschenIn Hinblick auf Musikalität ist es (für Fortgeschrittene) interessant, verschiedene Versionen in Hinblick auf Tempo, Dynamikwechsel, Rhythmus etc. miteinander zu vergleichen und sich zu überlegen (bzw es auszuprobieren) wie man das "vertanzen" könnte. Nehmen wir das bekannte "Comme il faut", einmal von Di Sarli (https://www.youtube.com/watch?v=7zFdCRSoeWY) und dann von El Cachivache (https://www.youtube.com/watch?v=dMnyK84-P8E). Schlechte Tänzer(innen) tanzen beide Versionen gleich, bei besseren sieht man gleich, dass die zweite Version viel mehr Energie hat.
Aber genau das passiert doch ganz von alleine, wenn ich jedes Stück für sich selbst betrachte. Wenn ich die Cachivache Version in der Dynamik tanze, die ihr innewohnt: Was bringt es mir dann, wenn ich weiß, dass es auch eine Version von di Sarli gibt?
Löschen> Aber genau das passiert doch ganz von alleine
LöschenSchön wär's. Warst du schon mal auf Milongas mit flotter Live-Musik? Die meisten Leute tanzen genau denselben lätscherten Stiefel wie sonst auch. Woher sollen sie auch was anderes können? Sie haben es ja nie gelernt und wurden nie mit solcher Musik konfrontiert.
> Was bringt es mir dann, wenn ich weiß, dass es auch eine Version von di Sarli gibt?
Das WISSEN bringt dir natürlich gar nichts. Nach meiner Erfahrung lernen viele Leute (vor allem Männer) am besten durch Kontraste.
[Sorry, für die sehr verspätete Antwort, hatte nicht mitbekommen, dass du geantwortet hattest.]